Entmündigt
begriffen … bis heute nicht! Eine Grippe ist eine Grippe, ein Krebs ein Krebs, ein Gallenstein ein Gallenstein, und jeder Arzt kann sagen: So oder so wird die Krankheit verlaufen. Aber ein Manischer ist nicht wie der andere, und tausend Schizophrene sind tausendfach verschieden, so wie kein Mensch einem anderen vollkommen gleicht und keine Seele in ihrer Anlage doppelt auftritt. Wer kann hier eine Prognose stellen? Wer kann sagen: Es wird kein Schub mehr kommen? Oder: Die Schübe kommen in Abständen von vier Wochen? Oder: Er wird nie toben oder töten oder Wände beschmieren? Das Irresein ist ein Geheimnis wie der Schöpfungsakt unseres Alls. Es ist ein Rätsel wie der Begriff der Unendlichkeit …
Nun, es hatte keinen Sinn, dies alles zu schreiben und zu erklären zu versuchen. Maggfeldt war sich ja nicht einmal sicher, ob man Erklärungen erwartete, ob man ihn überhaupt verstehen wollte. Er schwieg also weiter und ließ sich mit Dreck und Steinen bewerfen.
Plötzlich sehnte Maggfeldt sich nach Ruhe. Er war so weit, daß er die Kranken beneidete, die in einem Dauerschlaf lagen. Zehn Tage schlafen und nichts hören und nichts sehen …
Aber er bekam keine Ruhe.
Im Garten starb in diesem Augenblick ein Kranker vor Aufregung an Herzschlag, weil er einen Hund für den Teufel gehalten hatte.
»Wo ist der Chef?« hörte Maggfeldt durch den langen Flur rufen.
*
Die Möglichkeiten, Gisela Peltzner auf legale Art aus der Anstalt zu holen, waren gering.
Oberarzt Dr. Pade hatte es nach dem Studium der mageren Beweise Dr. Buddes klar erkannt. Er hatte auch gestanden, daß er allein – wenn er auch Oberarzt war – nicht in der Lage war, durch ein gegenteiliges ärztliches Urteil den Stein wieder ins Rollen zu bringen. Er konnte nur versichern, daß er an Giselas Gesundheit glaubte und alles tun würde, um ihr zu helfen.
In einem Zustand tiefer Niedergeschlagenheit ließ er an diesem Abend Dr. Budde zurück. »Kopf hoch!« sagte er aufmunternd. »Vielleicht geht es sogar schnell. Zufälle schaffen manchmal eine völlig neue Situation …«
Es war ein billiger Trost. Das Warten auf ein Wunder!
»Nein!« sagte Dr. Budde. Er saß vor seinen Zeitungsausschnitten, und sein Herz wurde eiskalt, wenn er las, wie lange Jahre die anderen Gesunden gebraucht hatten, um inmitten von Irren als Gesunde erkannt zu werden. »Nein! So geht es nicht!«
Er rief seinen Freund an. Dr. Hartung hatte schon geschlafen und meldete sich mit einem langen Gähnen.
»Hör zu, Gerd«, sagte Budde laut. »Eben war Oberarzt Dr. Pade aus der ›Park-Klinik‹ bei mir. Er hat mir den letzten Anstoß gegeben. Noch in dieser Woche wird etwas geschehen, etwas Ungewöhnliches …«
In Dr. Hartung ging eine Alarmglocke. Sein Freund Klaus Budde am anderen Ende der Leitung schien zu allem entschlossen.
»Mach keinen Blödsinn, Klaus!« sagte Hartung ernst und setzte sich auf in seinem Bett, »schlaf erst, und morgen reden wir weiter!«
»Gisela bleibt nicht eine Woche länger in der Anstalt, ich verspreche es dir!«
»Unternimm um Gottes willen nichts, was unserer ganzen Sache schaden könnte! Du hast das gesamte Gesetz gegen dich, wenn du ohne Beweise eine vollendete Tatsache umstoßen willst! Und Tatsache ist, daß Gisela in eine Anstalt gebracht wurde und gesetzmäßig entmündigt worden ist!«
»Das alles kümmert mich nicht!« Dr. Budde ballte die Fäuste. »Stehen die Menschenrechte nur auf dem Papier? Nein! Nein! Ich handle jetzt!«
»Jetzt dreht er durch!« sagte Dr. Hartung so laut zu sich, daß es Budde hören mußte.
»Ich drehe nicht durch«, schrie er zurück. »Ich will nur das primitivste Recht für Gisela!«
»Ich komme zu dir.« Dr. Hartung schlug die Decke zurück. Mein Junge, wenn du wüßtest, was heute Recht bedeutet …
Dr. Hartung warf den Hörer zurück auf die Telefongabel, sprang aus dem Bett und zog sich schnell an. Wenig später stieg er in eine Taxe.
Es war vergeblich gewesen, was Dr. Hartung zwei Tage lang immer wieder versucht hatte. Dr. Budde erkannte keine Argumente an, die gegen seinen Plan sprachen, am allerwenigsten den Hauptgrund, den Dr. Hartung ihm am Ende entgegenhielt.
»Zeit brauchen wir! Mensch! Peltzner ist uns durch seine Fachgutachten, auch wenn sie gekauft waren, weit voraus. Was haben wir denn in der Hand gegen ihn? Lächerliche Unterschlagungen … Einen Mordverdacht … Aber auch der Tod des Fabrikanten Bruno Peltzner ist gerichtsärztlich einwandfrei: Jagdunfall. Die Akten verstauben längst
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