Entmündigt
und mit einem der Heizungsmonteure sprach, der Gewinde in ein Stahlrohr schnitt, kümmerte sich niemand darum. Gisela war eine stille Kranke, die nicht zu Exzessen neigte.
»Na?« sagte der Monteur, als sie zu ihm trat. »Was gibt's? Darfste denn frei 'rumlaufen?«
»Wollen Sie mir einen großen Gefallen tun?« fragte Gisela. Der Monteur grinste und sah sich um.
»Wollen schon – ist aber verboten …«, sagte er ein wenig verlegen. Gisela wurde rot. Natürlich, ich bin ja in seinen Augen eine Irre, dachte sie.
»Wollen Sie einen Brief nach draußen mitnehmen?«
»Ich sag' dir doch – wollen schon …«
»Sie sollen ihn nur abgeben. Der Herr, der Ihnen den Brief abnimmt, ersetzt Ihnen das Fahrgeld. Bitte, tun Sie mir den Gefallen …«
Der Monteur schüttelte den Kopf. »Mädchen«, sagte er eindringlich, »es hat keinen Zweck! Geh zurück ins, Haus und sei friedlich!«
»Sie halten mich für verrückt, wie die anderen. Ich nehme es Ihnen nicht übel. Aber ich bin gesund. Völlig gesund! Bitte glauben Sie es mir doch! Man hat mich hier eingesperrt! Es ist ein Verbrechen! Sie sollen durch die Überbringung dieses Briefes mithelfen, dieses Verbrechen aufzuklären! Bitte, helfen Sie mir doch …«
Giselas Stimme war klar und beschwörend. Der Monteur grinste verlegen. Er hatte gehört, daß viele Irren behaupteten, sie seien gesund und völlig zu Unrecht in der Anstalt. Zu denen gehörte also dieses Mädchen. Schade um das Ding. Er sah, wie Gisela schnell den Brief aus dem Pullover zog und ihm in die Tasche des blauen Kittels steckte. Er wehrte sich nicht. Irre muß man in Ruhe lassen, dachte er. Draußen werde ich den Brief zerreißen.
»Ist gut«, sagte er und schnitt weiter sein Gewinde in das Rohr. »Ich bring' ihn hin. Wohin geht er denn?«
»Zu Herrn Dr. Budde. Er ist mein Verlobter …«
»Dr. Budde«, wiederholte er, als sei es ihm ernst damit. »Soll ich ihm noch was bestellen?«
Giselas Stimme wurde zu einem Flüstern: »Sagen Sie ihm, daß ich auf ihn warte! Lange halte ich es hier nicht mehr aus …«
»Werd's bestellen!« Der Monteur arbeitete weiter.
»Danke«, sagte Gisela, ging zurück zur Bank und las wieder in ihrem Buch.
Mit brennenden Augen verfolgte Gisela dann bei Feierabend, wie die Monteure ihr Werkzeug zusammenpackten und die Klinik verließen.
Das elektro-magnetische Tor hatte sich hinter dem Monteur noch nicht richtig geschlossen, da holte er bereits den Brief aus seiner Tasche, riß ihn auf und überflog die wenigen Zeilen.
Er hatte alles erwartet, verworrene Sätze, Dummheiten, aber nicht diese klare Sprache. Nachdenklich kratzte er sich den Kopf, steckte den Brief zurück in den Umschlag und sann auf dem Nachhauseweg darüber nach, was er tun sollte. Möglich ist so was ja, dachte er. Und wie 'ne Irre hat sie eigentlich auch nicht ausgesehen. Auf jeden Fall konnte man ja feststellen, ob es diesen Dr. Budde überhaupt gab.
*
Nach dem Abendessen fuhr er hinaus zu der angegebenen Adresse. Er hatte den Brief in einen frischen Umschlag gesteckt. Tatsächlich wohnte ein Dr. Klaus Budde in dem Haus, aber er war verreist, wie der Hausmeister sagte. Wohin? Unbekannt. Die Post blieb liegen. Dr. Budde ließ sie sich nicht nachschicken. Die Miete hatte er für ein halbes Jahr im voraus bezahlt. Es blieb nichts anderes übrig, als den Brief zu den anderen zu legen.
Etwas verwirrt verließ der Monteur das Haus. Er verstand die Zusammenhänge nicht. Da ist ein Mädchen, das angibt, gesund in ein Irrenhaus gesperrt worden zu sein und einen Verlobten zu haben, den sie um Hilfe anfleht. Und da ist wirklich dieser Verlobte, aber statt für sie bereit zu sein, verreist er mit unbekanntem Ziel. Klingt wie in einem Kriminalroman, dachte der Monteur. Eine faule Sache ist's allemal! Man sollte sich da 'raushalten.
Am nächsten Morgen sah er Gisela schon bei seiner Ankunft in der Klinik wartend auf der Bank sitzen. Ihre Augen waren groß und fragend auf ihn gerichtet.
»Nichts!« sagte er leise, als er an ihr vorbeiging. »Ist verreist …«
»Verreist?« stotterte Gisela. »Aber wohin denn …«
»Unbekannt …«
»Unbekannt … Aber …«
»Streichen Sie den weg, Fräulein … der denkt nicht mehr an Sie …«
Es dauerte bis zum Mittag, ehe Gisela zusammenbrach. So lange brauchte sie, um zu begreifen, daß Klaus sie verlassen hatte. Verraten und allein gelassen!
Ihr Zusammenbruch verlief still und ohne Dramatik. Sie fiel einfach vom Stuhl auf den Boden, zuckte ein wenig und lag dann
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