Entmündigt
wer damals meinen Wagen gesteuert hat. – Das war's …«
Bei den letzten Worten stand Budde auf, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Lokal.
*
Gisela Peltzner verwandte ihre ganze Kraft darauf, inmitten dieser Trümmer menschlichen Geistes normal zu bleiben, bis Klaus Budde sie wieder aus der Hölle herausgeholt haben würde. Gewiß machte er den Versuch, ihr ab und zu zu schreiben. Aber ebenso sicher war auch, daß die Anstaltsleitung keinen Brief durchließ. Da ergab sich für Gisela ganz überraschend die Möglichkeit, von sich aus Verbindung nach draußen aufzunehmen:
An der Heizung des Pavillons war ein Defekt. Drei Monteure waren damit beschäftigt, den Kessel auszuwechseln.
Die beiden Zimmergenossinnen Giselas waren außer Rand und Band. Jammernd lief die mit dem Bakterientick herum, hatte sich die Hände verbunden und nasse Handtücher um Kopf und Nase gewickelt. Sooft sie die Monteure erblickte, stieß sie einen spitzen Schrei aus.
»Sie wimmeln von Bakterien!« schrie sie. »Seht nur! Seht euch das doch an! Vierhundert Milliarden Bakterien tragen sie mit sich herum! Vierhundert Milliarden! Und nur eine einzige genügt, eine einzige für jeden von uns, und wir sind tot! Tot!«
Sie flüchtete in die hinterste Zimmerecke, kauerte sich zusammen und schrie nach der Schwester, nach Karbol, nach Wasser, Seife und Desinfektionsmitteln.
Mit verklärter Miene stand die religiös Wahnsinnige am Fenster, als die Monteure ihr zweites Frühstück verzehrten. Sie aßen dicke Butterbrote und tranken dazu Bier aus der Flasche.
»Habt ihr gebetet?« fragte sie streng und hob die Hände. »Kniet nieder und singt: Der Gott, der Eisen wachsen ließ …«
»Sei schön still, Mariechen, und geh ins Bett!« rief einer der Monteure begütigend. Er war der ständige Heizungsbetreuer des Hauses, und er kannte solche Auftritte.
Gisela saß währenddessen neben der Tür, hörte mit dem einen Ohr das Keifen und Plappern ihrer Zimmergenossinnen, während sie mit dem anderen nach Schritten auf dem Flur lauschte. Dabei flog die rechte Hand mit dem Bleistift über einen Bogen Papier. Die Monteure, dachte sie fieberhaft, die Monteure müssen den Brief mitnehmen! Gisela schrieb an Dr. Klaus Budde.
»Weißt du«, hörte sie die religiös Irre aus dem Fenster rufen, »daß Maria Magdalena und Jesus etwas miteinander hatten?«
Und darauf die gutmütig brummelnde Stimme des Mannes draußen: »Nun mal sachte, Mariechen. Ich bin schließlich Handwerker und kein Schriftgelehrter. Da mußt du schon andere fragen …«
»Dann laß dich segnen, Zweifler!« Sie hob beide Arme wie ein Pastor.
Eine Schwester kam, zog die Wahnsinnige fort und schloß knallend das Fenster.
»Ende der Vorstellung!« rief einer der Monteure. Dann packten sie alle drei ihre restlichen Brote ein, tranken ihre Bierflaschen leer und gingen zurück in den Keller zur Heizung.
Gisela Peltzner hatte gerade noch Zeit gehabt, den Brief zu verschließen und in den Halsausschnitt ihres Pullovers zu schieben. Erleichtert atmete sie auf: die Schwester hatte nichts bemerkt.
Ruhig und scheinbar teilnahmslos saß Gisela wieder auf ihrem Bett und beobachtete die Schwester und die beiden anderen Frauen. Aber in ihrem Kopf wiederholte sie in Gedanken, was sie an Klaus Budde geschrieben hatte:
›Geliebter! Seit ich Dich hier gesehen habe, weiß ich, daß Du ihnen nicht glaubst. Du glaubst an mich und meine Gesundheit. Es hilft mir sehr viel, das zu wissen: Ein Mensch glaubt noch an mich. Ich hoffe, daß der Professor Deinen Glauben bald bestätigen wird. Ich bin gesund. Trotzdem – tu, was Du kannst! Es ist die Hölle hier. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, um es zu ertragen, aber manchmal glaube ich, die Kraft nicht mehr zu haben. Es ist ja nicht nur die Tatsache, daß man mich hier für irre hält. Das Schlimmere, das ständig an mir und meiner Kraft nagt, ist das Wissen, daß ein Verbrechen mich zu dem gestempelt hat, wofür man mich jetzt hält. Wenn das nicht aufgeklärt wird, dann wäre also der perfekte Mord doch möglich. Mehr noch! Denn als Gesunder sein Leben unter Irren verbringen zu müssen, so um sein Leben bestohlen zu werden, ist schlimmer als Mord. Hilf mir, Geliebter, hilf mir bald …!‹
Gisela Peltzner gehörte zu den wenigen Insassen der Klinik, die sich frei bewegen durften. Sie tat also nichts Unerlaubtes, als sie um den Pavillon herum spazierenging, sich schließlich auf eine Bank setzte und in einem Buch las. Auch als Gisela aufstand
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