Entmündigt
Albernheiten!« Heinrich Fellgrub stieß seinen Schirm auf den Asphalt. Er wirkte plötzlich nicht mehr sehr englisch. Sein Gesicht unter dem steifen Hut war gerötet. »Sie sind wegen Gisela hier …«
»Wegen Gisela in London! Gisela ist in einem deutschen Irrenhaus. Dort geht's ihr übrigens gut, wenn Sie das beruhigt. Keine Sorgen um Essen und Trinken, keine Probleme: Wo legst du am Abend dein müdes Haupt hin … alles Dinge, um die sich ein Arbeitsloser wie ich intensiv kümmern muß, wenn er nicht im Hyde-Park auf einer Bank schlafen will. Aber das sehen die Bobbys sehr ungern. Manchmal meine ich, Gisela ist zu beneiden. Es ist fast eine Strafe, nicht verrückt zu sein!«
Heinrich Fellgrub wischte sich mit dem rechten Handrücken über die Augen. Er schwitzte plötzlich. Aber es war kalter Schweiß, der aus ihm hervorbrach. Es war Angstschweiß …
»Darf ich Sie zu einem Sandwich einladen?« Sagte er unsicher.
»Gern. Mir knurrt der Magen. Außerdem habe ich kalte Füße. Ich werde wohl einen Schnupfen bekommen. Meine Mutti sagte immer: Kläuschen …«
»Bitte, seien Sie nicht kindisch, Herr Dr. Budde!« Fellgrub atmete kurz und heftig. »Sie bilden sich doch hoffentlich nicht ein, mich damit täuschen zu können. Sie haben etwas vor, darum sind Sie in London. Und wir sind unter uns, niemand hört uns. Darum sage ich Ihnen: Was Sie auch planen … es ist sinnlos! Sie vergeuden Ihre Zeit! Ich weiß nicht, was Sie vorhaben …«
»Gott sei Dank!« warf Budde trocken ein. Ein Einwand, der Fellgrub wie ein elektrischer Schlag durchfuhr.
»… aber was immer Ihre Gedanken sind: Sie ändern nichts an – leider tragischen – Tatsachen!«
»Ich bin glücklich, in Giselas Familie solch zarte Gefühle zu entdecken!« Es begann zu regnen. Budde schlug den Mantelkragen hoch. Fellgrub spannte seinen Schirm auf, aber er ließ Budde nicht mit darunter gehen.
»Ich bedaure das Schicksal Giselas wirklich zutiefst, das können Sie mir glauben«, sagte Fellgrub.
Dr. Budde nickte. »Ich weiß. Mit einigen Millionen in der Tasche fällt das Bedauern leicht. Irgendwie hat Gott da im menschlichen Durchschnittsgehirn eine moralische Bremse vergessen. Wir können's nicht mehr ändern, Heinrich …«
»Sie verkennen die Lage«, sagte Heinrich Fellgrub, als er seinen Mantel an der Garderobe abgab.
»Durchaus nicht! Ich weiß zum Beispiel, daß mir nachher ein starker Fliedertee sehr helfen wird!«
»Sie müssen mich für einen großen Idioten halten, was?«
»Solche Urteile überlasse ich Ärzten – es müssen ja nicht unbedingt gekaufte sein«, antwortete Dr. Budde.
Zähneknirschend betrat Fellgrub vor Budde das Lokal. Er suchte einen Tisch in einer düsteren Ecke, setzte sich mit verkniffenem Gesicht und bemerkte, daß aus Buddes Hosenbeinen das Wasser in dessen Schuhe tropfte.
»Daß Sie von einem Idioten überhaupt ein Sandwich annehmen!« sagte er aggressiv.
»Warum nicht? Dummer Stolz war nie eine meiner Eigenschaften. Wenn ich Hunger habe und ein anderer bezahlt, esse ich das Sandwich, selbst wenn es von einem Schwein wie Ihnen kommt!«
»Herr Budde!« Fellgrub legte die Fäuste auf den Tisch, gefährlich und kraftvoll, nur – Budde sah es deutlich – die Fäuste zitterten …
»Tja, so ist das nun mal!« Budde bestellte bei dem Kellner eine Platte Aufschnittbrötchen und eine Flasche Ale.
»Man müßte Sie zusammenhauen, Sie … Sie …«, Heinrich Fellgrub fand kein passendes Wort und schwieg.
»Hier?« höhnte Budde leise. »In einem so vornehmen Lokal des so konventionellen England? Man würde Sie ausweisen, Herr Fellgrub! Hier sind Sie und ich sicher. Hier kann ich Ihnen sagen, was ich will, und Sie müssen es anhören … oder Sie müssen weggehen.«
»Was ich sicherlich tun werde!«
»Bravo, lieber Vetter Heinrich! Aber bevor Sie gehen, sollen Sie noch eines wissen.« Klaus Budde beugte sich weit über den Tisch zu Fellgrub vor. »Man hat Gisela als Gesunde in eine Hölle verbannt! Glauben Sie eigentlich im Ernst, daß so etwas auf die Dauer unentdeckt bleibt? Wenn Sie das glauben, dann kann ich Ihnen auch ohne ärztliches Gutachten versichern, daß Sie ein ausgewachsener Idiot sind. Sie wollten mich ausschalten, Herr Fellgrub, um zu vermeiden, daß ein Verbrechen an den Tag kommt. Aber heute weiß die Staatsanwaltschaft schon, daß ich damals nachts nicht am Steuer meines Wagens gesessen habe. Sie wird auch in Giselas Angelegenheit bald einiges mehr wissen. Und ich weiß sogar schon jetzt,
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