Entrissen
Telefon klingelte. Dankbar für die Ablenkung nahm er ab.
»DI Brennan.«
Es war DCI Fenwick, sein unmittelbarer Vorgesetzter. »Sir?«, sagte Phil.
»Bin schon auf dem Weg zu Ihnen. Wollte vorher noch kurz mit Ihnen sprechen.« Fenwicks Stimme klang fest und verbindlich, und sie war für Pressekonferenzen vor Fernsehkameras so gut geeignet wie für das Erzählen von Witzen in exklusiven Golfclubs.
»Gut, Sir. Ich kann Ihnen sagen, womit wir es zu tun haben.« Phil setzte ihn ins Bild, wobei er fortwährend an das vermisste Baby dachte, da in seinem Innern immer noch unaufhaltsam die Uhr tickte. Er war froh, dass die Schaulustigen auf der Brücke ihn nicht hören konnten. Er hoffte, dass niemand aus der Menge von den Lippen ablesen konnte. Für alle Fälle verbarg er seinen Mund hinter der vorgehaltenen Hand.
»Um Himmels willen«, sagte Ben Fenwick, als Phil geendet hatte. Dann bot er an, sich um die Presse zu kümmern - genau wie Phil es vorausgesagt hatte. Fenwick war nicht nur bekannt dafür, dass er keine Gelegenheit ausließ, sein Gesicht in eine Kamera zu halten, sondern verfügte darüber hinaus über zahlreiche Kontakte bei den Medien, konnte also dafür sorgen, dass der Fall auf eine Art und Weise dargestellt wurde, die den Ermittlungen dienlich war.
»Klingt für mich nach einem Serientäter. Was meinen Sie?« Fenwicks Tonfall war düster.
»Nun ja, wir müssen noch die Sache mit der Party überprüfen, den Freund vernehmen ...«
»Ihr Bauchgefühl?«
»Ja. Ein Serientäter und ein Baby-Kidnapper.«
»Wunderbar. Das wird ja immer schlimmer.« Fenwick seufzte. Über die Telefonleitung klang es wie ein raues elektronisches Bellen. »Im Ernst. Ein Serienkiller. In Colchester. So etwas gibt es doch gar nicht. Nicht hier.«
»Sie sind nicht der Erste mit dieser Meinung, Sir. Ich glaube, vor einigen Jahren haben die Leute in Ipswich genau dasselbe gesagt.«
Damals hatte im Rotlichtbezirk der kleinen Stadt in Suffolk ein Serienmörder sein Unwesen getrieben. Er war gefasst worden, aber erst nachdem er fünf Prostituierte getötet hatte.
Ein weiterer Seufzer. »Wahr. Aber wieso? Und wieso hier?« »Ich bin mir sicher, das hat man sich in Ipswich auch gefragt.«
»Vermutlich. Hören Sie. Der Fall hat oberste Priorität. Der liebe Herrgott weiß, wie viel Zeit wir haben, um diesen Mistkerl zu schnappen und das Baby zu finden, aber wir müssen uns beeilen. Sie werden Hilfe benötigen.«
»Wie meinen Sie das, Sir?«
»Eine andere Perspektive. Psychologischen Input. Ein Täterprofil.«
»Ich dachte, von so was halten Sie nichts.«
»Tue ich auch nicht. Aber der Detective Superintendent hat aus Chelmsford angerufen. Meint, es könnte hilfreich sein. Hat sogar schon die Gelder bereitgestellt. Was bleibt uns also übrig? Eine weitere Waffe im Arsenal, Sie wissen schon.«
»Und an wen haben Sie dabei gedacht?« Ein Schauer durchzuckte Phil, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Er ahnte bereits, was Fenwick als Nächstes sagen würde. Hoffte, dass er falschlag.
»Jemanden mit Fachwissen, Phil. Sie habe schon mit ihr zusammengearbeitet. «
Mit ihr.
Phil wusste genau, von wem er sprach. Erneut verspürte er Enge in der Brust, aber diesmal war es kein Angstanfall. Nicht direkt.
»Marina Esposito«, sagte Fenwick. »Erinnern Sie sich noch an sie?«
Und ob sich Phil noch an sie erinnerte.
»Ich weiß, das letzte Mal hat die Sache ein etwas unseliges Ende -« Fenwick bekam keine Gelegenheit, den Satz zu beenden.
Phil lachte bitter auf. »Das ist ja wohl eine Untertreibung.«
»Nun«, fuhr Fenwick unbeirrt fort. »Auf jeden Fall ist sie eine erstklassige forensische Psychologin. Und wenn man das, was damals passiert ist, einmal beiseitelässt: Sie hat uns Ergebnisse geliefert.«
»Das hat sie«, musste Phil ihm zustimmen. »Sie war ganz ausgezeichnet.«
Und als Liebhaberin noch besser,
fügte er im Stillen hinzu.
Bei diesen Worten zog sich seine Brust erneut zusammen. Er seufzte. An den Fall konnte er sich noch gut erinnern. Wie sollte es anders sein?
Gemma Hardy war Mitte zwanzig und arbeitete als Sprechstundenhilfe in einer Zahnarztpraxis. Sie lebte in einer Wohngemeinschaft im Dutch Quarter. Sie hatte viele Freunde und war glücklich in einer festen Beziehung. Das Leben meinte es gut mit ihr. Aber das sollte sich schon bald ändern. Denn Gemma war ins Visier eines Stalkers geraten.
Zuerst waren es nur Kurzmitteilungen auf ihrem Handy. Abartige Liebesbotschaften, deren Verfasser sie
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