Entrissen
Erzählungen aus ihrer Haftzeit halte, da sie mir nicht mehr aus dem Kopf gingen.
»Hältst du es für möglich, dass man so etwas mit Menschen gemacht hat?«, hakte ich nach.
Er verneinte knapp und bestätigte damit meine Annahme, dass er von Mamas Schilderungen unbeeindruckt geblieben war. Wieder einmal spürte ich, dass die DDR -Vergangenheit zwischen uns ein Tabuthema blieb. Ohne weitere Vertraute bekam ich daher keine Gelegenheit, die aufwühlenden Eindrücke im Gespräch mit anderen zu verarbeiten.
Erst viel später wurde mir bewusst, welche Belastung unser Besuch für Mama bedeutet haben muss. Diese Frau hatte den Strafvollzug durch den Staatsapparat der DDR erst zwölf Jahre hinter sich, und dann stand eines Tages ihre lange vermisste Tochter, die man ihr gewaltsam weggenommen hatte, unangemeldet in der Tür. Gewiss bemerkte sie sofort: Ihre Katrin war kein Mensch, der als Heranwachsender die Schattenseiten des Regimes hatte erleben müssen. Im Gegenteil: Aus ihrer verlorenen Tochter schien eine »rote Socke« geworden zu sein, eine Parteigängerin der SED , schon von Kindesbeinen an in den Denkstrukturen der Diktatur geformt. Ihr eigenes Kind hatte sich in eine andere Richtung entwickelt, als wenn es bei der leiblichen Mutter geblieben wäre.
Damit nicht genug: Im Schlepptau hatte die Tochter einen offenbar weiterhin überzeugten Politoffizier, geschliffen in der Kaderschmiede der Diktatur, geschult in klassenkämpferischem Freund-Feind-Denken. Was für eine unangenehme Überraschung muss all das für sie gewesen sein! Wie sollte sie ihrem Kind, das von diesem Staat stets nur das vermeintlich Beste erfahren hatte, die Dimensionen ihrer Haftbedingungen begreiflich machen? Wie sollte sie auf Verständnis für ihre jahrelange Isolation stoßen, wenn ihre Tochter keine Ahnung von den abgründigen Details der Strafverfolgung hatte? Vielleicht auch gar nichts davon wissen wollte? Wie sollte Mama uns klarmachen, dass sie ihre Mutterrolle nicht freiwillig aufgegeben hatte, wenn ein Begriff wie Zwangsadoption im Vokabular angepasster Staatsbürger nicht vorkam?
Dabei hatte sie ganz gewiss vieles von dem, was sie am eigenen Leib erleben musste, für sich behalten. Häftlingen in der DDR war es bei Strafe untersagt, von ihren Erlebnissen zu berichten – eine Drohung, die noch bis in die Wendezeit nachwirkte. Sie wird es in manchen Details bei Andeutungen belassen haben, um uns nicht vor den Kopf zu stoßen. Und sie registrierte sicher schmerzvoll die Skepsis, die ich ihren Ausführungen entgegenbrachte. Ihre vermisste Tochter musste ihr nun wie eine Fremde vorkommen, eine Abgesandte aus dem Lager ihrer Verfolger.
Doch all das ist mir erst später bewusst geworden, die Erkenntnis brauchte noch lange Zeit. Bei unserem ersten Wiedersehen waren mir solche Überlegungen jedenfalls vollkommen fremd. Für mich existierte in jenen Tagen innerhalb der DDR kein Schattenreich. Ich war in erster Linie glücklich darüber, dass die ungewisse Wartezeit, die verzweifelte Suche nun ein Ende gefunden hatte. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich weder die Persönlichkeit meiner Mutter noch ihr erlittenes Schicksal klar erkennen. Ich schied von Mama in der Erwartung, sie fortan regelmäßig zu sehen. Mich beseelte die Vorstellung, meine beiden Leben wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, meinen beiden Müttern gleichermaßen in meinem Herzen Platz zu gewähren.
Auf dem Heimweg grübelte ich lange darüber nach, wie ich meine Adoptiveltern über das Wiedersehen mit meiner leiblichen Mutter in Kenntnis setzen sollte. Ich befürchtete, dass meine eigenmächtige Kontaktaufnahme unser zerbrechliches Auskommen nachhaltig schädigen könnte und sie mir mit Vorwürfen begegnen würden. Mir war zudem bewusst, wie absehbar Ungunst und Eifersucht zwischen zwei konkurrierenden Müttern entstehen konnten.
Ich sah nur eine Möglichkeit, diesen Zwiespalt aufzulösen. Es war ein radikaler Schritt, und zugleich erschien er mir als einzig gangbarer Weg: Die beiden mussten sich kennenlernen! Wenn sie einander begegneten, so malte ich mir aus, würde bei ihnen endlich das Verständnis für meine Zerrissenheit entstehen, das ich zeitlebens vermisste. Wie alle Adoptivkinder sehnte ich mich nach einer friedvollen Balance zwischen allen Beteiligten. In meinem Zwiespalt wurde mir auch bewusst, dass ich im Grunde von beiden Müttern geliebt werden wollte, egal wie schwierig das Verhältnis sich jeweils gestalten mochte.
In mir reifte der naive
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