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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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mit ihren Freunden und Nachbarn. Sie hat all die Jahre auf mich gewartet. Sie hat mich nicht vergessen, nicht abgeschrieben! Ich sehe mich umringt von Menschen, die ich nicht kenne, und blicke in freudige Gesichter. Unbekannte begrüßen mich, Fremde klopfen mir vertraut auf die Schulter. Dieses Fest gleicht einem Kettenkarussell, und ich bin einen Moment lang die Achse, um die sich alles dreht. Ich fühle mich freundlich empfangen, willkommen, aufgenommen in diese Dorfgemeinschaft, die durch meine Mama längst von meiner Existenz wusste.
    An unserem Tisch kreist das Gespräch bald um das Schicksal, das meiner Mama zu DDR -Zeiten widerfahren ist. Empört beschweren sich die Frauen über den Staat und entrüsten sich darüber, was er unbotmäßigen Menschen angetan hat. »Unglaublich: nur weil jemand nicht so dachte wie die«, sagt eine der Anwesenden empört. Da ist es wieder, dieses DIE
,
die großen Unbekannten, die gesichtslosen Täter …
    Die Frauen in der Runde zeigen weit weniger Zurückhaltung als Mama in unserem Gespräch, sie geben dem Phantom einen Namen. DIE
,
das heißt für sie Partei, Polizei, Staatssicherheit, Armee und andere Organe unserer DDR . Allmählich wird mir doch ein wenig mulmig. Zum Glück ist Olaf gerade draußen, denke ich mir, denn ich fürchte nichts mehr als einen Eklat bei unserer Wiedersehensfeier. Hoffentlich eröffnen die Leute hier jetzt nicht noch die Hetzjagd auf meinen Mann.
    Kaum hörbar flüstere ich Mama zu, dass auch Olaf Politoffizier gewesen ist.
    Sie fällt keineswegs aus allen Wolken. »Das habe ich auf den ersten Blick gesehen«, raunt sie zurück, »dass er einer von denen ist.« Fast unbezähmbare Wut schwingt in den Worten der sonst so sanftmütig wirkenden Frau mit. Allerdings garniert sie die Bemerkung mit einem verschwörerischen Augenzwinkern, aus dem ich schließe, dass sie mich in ihr verachtendes Urteil nicht einbezieht.
    Einer von denen. Für Mama gehört also auch mein eigener Mann zu DENEN
,
die ihr so viel Unheil zugefügt hatten. Die Debatte wirkt zunehmend unangenehm auf mich, als hätte ich zu viel Alkohol getrunken. Ich will das alles gar nicht hören und stehe abrupt vom Tisch auf. Die widersprüchlichen Facetten der Wirklichkeit überfordern mich. Wenn das Urteil stimmt, das die Frauen über unseren Staat fällen, dann kann dies in der Konsequenz nur heißen, dass auch mein eigenes bisheriges Dasein auf Lügen beruht. Die Grundfesten meiner DDR -Existenz, die seit der Wende ins Wanken geraten sind, drohen nun endgültig einzustürzen. Das meiste von dem, das mich prägte und zu dem ich erzogen wurde, ist gefährdet, als trügerische Illusion entlarvt zu werden.
    Auf einmal möchte ich nur noch nach Hause. Als ich gerade den Saal verlassen will, laufe ich ausgerechnet Mamas Mann, der sich zuvor am Grillplatz aufgehalten hat, in die Arme. Er hatte gerade vor, sich eingehender mit mir zu unterhalten, aber ich bin weniger erpicht darauf. Im Überschwang der Gefühle bedrängt er mich mit einer Vertraulichkeit, die in diesem Moment unangenehm auf mich wirkt. Ich fühle mich durch die sicher aufrichtig gemeinte Annäherung dieses mir unbekannten Mannes eingeengt. Vielleicht freut er sich, in mir nun gewissermaßen eine weitere Tochter hinzugewonnen zu haben. Aber ich brauche keinen Vaterersatz, ich habe ja Vati. Das offen auszusprechen hüte ich mich natürlich. Nur leider lässt er weiter nicht locker. Eine Spur zu laut fordert er mich mit einer Kopfbewegung in Richtung meiner Mama auf: »Sag doch einfach Mutti zu ihr!«
    Ich sehe ihn bloß irritiert an. Innerlich weise ich seine Einmischung zurück.
    Trotzdem berührt er mit seiner Aufforderung einen wunden Punkt. Der Gedanke daran lässt mich nicht mehr los, während wir kurz vor Mitternacht zu viert den Heimweg antreten. Wie soll ich meine leibliche Mutter ansprechen? Bis jetzt habe ich jede direkte Anrede umgangen. Ich kann es nicht: Ich bringe dieses Wort – noch – nicht wieder über die Lippen. Ich kann sie nicht einfach Mama nennen! Als hätten uns nicht zwei Jahrzehnte getrennt! Erst in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich quasi zwischen zwei Müttern stehe. Mein Dauerthema, das mich in dieser Nacht lange Zeit am Einschlafen hindert. Ich weiß nicht, wo ich eigentlich hingehöre.
    Am nächsten Morgen will ich Klarheit. Am Fenster ihrer großen Küche stehend, beobachte ich, wie Mama die Utensilien für das Frühstück aus dem Küchenschrank holt. Da erst bringe ich es endlich fertig,

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