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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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Gedanke, meine engsten Angehörigen gemeinsam an einem Tisch zu versammeln, um auf diese Weise die Teile meiner zerrissenen Existenz zusammenzubringen und neue Verbindungen zu knüpfen. Mama, so redete ich mir ein, müsste eigentlich Dankbarkeit gegenüber dem Ehepaar aufbringen, das mich immerhin vor dem Dasein als Heimkind bewahrt hatte. Und meine Adoptivmutti sollte sich endlich persönlich davon überzeugen können, dass es keineswegs eine Rabenmutter war, deren Nest ich entstammte.
    Mein Vorhaben war zunächst nicht einmal schwer in die Tat umzusetzen. Alle Angesprochenen zeigten sich aufgeschlossen für die Idee eines Familientreffens – sicher trug dazu auch Neugier bei, die jeweils andere Seite kennenzulernen. Wir fanden einen Termin, der allen zusagte, und verabredeten uns in dem kleinen Dorf bei Greiz, Mamas neuem Wohnort.
    Doch schon als Olaf und ich meine Adoptiveltern in Gera abholten, zeichneten sich erste Unstimmigkeiten ab. Mutti zeigte sich nun, da der Plan Wirklichkeit werden sollte, alles andere als aufbruchsbereit und empfing uns mit einer Litanei des Jammerns und Nörgelns. Am liebsten wäre sie zu Hause geblieben, hätte Vati nicht – selten genug, aber wirkungsvoll – ein Machtwort gesprochen. »Wir fahren da jetzt hin! Für die Katrin ist das wichtig!«, sagte er mit Nachdruck.
    Vatis Loyalität beruhigte mich und minderte ein wenig meine Anspannung, die ihren Höhepunkt erreichte, als wir endlich an einem prachtvollen Sommersonntag des Jahres 1991 in zwei Autos auf der asphaltierten Dorfstraße am vereinbarten Treffpunkt vorfuhren. Ihrem Haus gegenüber besaß Mama ein kleines Gartengrundstück am Hang neben der Straße. Hier zog sie eigenes Gemüse, und in einem kleinen Holzschuppen knabberten Kaninchen an Möhren. Mich erinnerte auch ihr Garten an die ländliche Idylle meiner Adoptivgroßeltern in Bad Köstritz. Mama hatte einen überdachten Holztisch bereits mit ihrem besten Geschirr eingedeckt. Sie hatte einen Kuchen gebacken, und Mutti steuerte einen weiteren bei.
    Sämtliche Erwachsenen – mein Mann, meine Adoptiveltern, meine Mama und ihr neuer Mann – waren geradezu krampfhaft bemüht, Fehler zu vermeiden. Als Mutti, vermutlich in der Absicht, ihr pädagogisches Geschick hervorzukehren, halb scherzhaft in die Runde warf: »Katrin war kein einfaches Kind. Sie konnte ganz schön bockig sein und hat dann auch gern mal auf die Tränendrüse gedrückt«, milderte Mama den unterschwelligen Vorwurf mit einem nachsichtigen Lächeln sofort ab.
    Zu meinen beiden Kindern gewandt, sagte sie: »Ach, im Grunde ist Katrin eine ganz Liebe, genau wie unsere beiden Süßen hier.«
    Schnell überboten sich alle Beteiligten gegenseitig mit Komplimenten, wie liebreizend Julia und Benni doch seien. Aus jedem ihrer Sätze sprach vorsichtige Höflichkeit, einem Gang über ein Minenfeld gleich. Offensichtlich befürchteten alle, dass ein falsches Wort zur falschen Zeit die Stimmung abrupt umkippen lassen könnte. Ich sah das Unheil irgendwie kommen, und plötzlich stieg das untrügliche Gefühl in mir hoch, dass dieses Treffen ein Fehler war.
    Beinahe wäre dennoch alles gut ausgegangen. Beim freundlichen Plausch an der Kaffeetafel hatten wir alle heiklen Themen ausgespart. Wir waren fast schon wieder am Parkplatz, als Mutti es sich schließlich nicht verkneifen konnte, den Vollzug ihres Erziehungsauftrags zu vermelden.
    »Wir haben immerhin ein anständiges Mädchen aus Katrin gemacht«, meinte sie zum Abschied, unverkennbar nach Lob heischend.
    Ich rollte mit den Augen und wusste in derselben Sekunde, dass mit diesem Satz die Mine doch noch explodieren würde. Sorgenvoll beobachtete ich, wie unter Mamas beherrschter Fassade die Wut emporstieg, wie sie sich mühte, die Fassung zu bewahren.
    Nicht Muttis unbeholfenes Eigenlob war es, das die bisher harmlose Sonntagskonversation schlagartig zum Schweigen brachte, sondern ihr ungewollt kritischer Unterton. Bei meiner leiblichen Mutter musste nämlich eine andere unausgesprochene Botschaft ankommen: Seht her, ich habe dieses Mädchen, das du einst stiefmütterlich behandelt hattest, aufgenommen, gerettet und auf den rechten Weg zurückgeführt. Mir ist es gelungen, dieses Kind, das du selbst nicht großziehen konntest, zu einem verantwortungsvollen Mitglied der sozialistischen Gesellschaft zu formen.
    Nach einem Moment der Sprachlosigkeit brach es aus Mama mit unerwarteter Heftigkeit und deutlich spürbarer Wut heraus. »
Ihr
habt mir ja keine Chance

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