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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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ihr gegenüber einzugestehen, wie sehr mich die Aufforderung ihres Mannes verunsichert hat. Sie stellt das Geschirr weg, wischt sich die Hände am Küchentuch ab und kommt langsam auf mich zu.
    »Ach, mein Schatz«, beruhigt sie mich und drückt mich dabei an sich. Jedes Mal, wenn sie Schatz zu mir sagt, spüre ich ein wohliges Kribbeln. Niemand sonst nennt mich so. »Lass ihn doch reden«, sagt sie mit wegwerfender Geste und sieht mir dann direkt in die Augen, »und sag zu mir einfach das, was dir am angenehmsten ist.«
    Wieder ist es ihre kluge Schlichtheit, die mich für sie einnimmt. Trotzdem setze ich noch einmal an: »Uns fehlen so viele Jahre. In meinem Inneren bist du immer meine Mama geblieben, aber ich kann es irgendwie noch nicht aussprechen.«
    Wieder besänftigt sie mich. »Mach dir keine Sorgen. So, wie du es möchtest, ist es richtig.«
    Wohltuende Erleichterung umfängt mich. Ich wusste es, all die Jahre, wann immer ich an Mama gedacht hatte: Sie hat Verständnis für mich.
    Dann, nach einem kurzen Seitenblick aus dem Fenster, fragt Mama mich unvermittelt: »Na, was denkst du, wer gleich hier sein wird?«
    Einen Moment später steht er auch schon in der Tür, in Jogginghosen und T-Shirt. Auf den ersten Blick erkenne ich ihn wieder, obwohl in den elf Jahren seit unserer letzten Begegnung aus dem Schuljungen ein erwachsener Mann geworden ist: Mirko. Er ist kräftig gebaut, aber nicht dick, und die dunkelblonden Haare trägt er unverändert kurz. Vor vier Jahren hat er eine eigene Familie gegründet und ist inzwischen Vater von Zwillingsbuben. Er ist mindestens so überrascht von unserer unerwarteten Begegnung wie ich.
    Zum ersten Mal stehen wir Geschwister uns ohne jeden Rivalitätsgedanken oder irgendwelche Behördenauflagen gegenüber. Niemand droht uns, unsere Mutter wegzunehmen. Als Erwachsene mit eigenen Familien müssen wir nicht mehr um die Gunst von Pflegemüttern und Erzieherinnen buhlen.
    Mirko bemüht sich, so locker wie möglich zu wirken, frei nach dem Motto: Na, lange nicht gesehen? Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe ihn noch nie so verkrampft erlebt. Wir sind zu lange getrennte Wege gegangen, und ich finde keinen direkten Draht mehr zu meinem großen Bruder, meinem Beschützer aus Kleinkindertagen. Mir fällt es schwer, zu ignorieren, was für gegensätzliche Lebenserfahrungen zwischen uns stehen. Die spontane innere Verbundenheit wie zu meiner Mama, die Blutsverwandte von Freunden scheidet, spüre ich bei ihm nicht.
    Mirko kommt mir wie ein Fremder vor, und ihm scheint es umgekehrt nicht anders zu gehen. Nachdem das Grillfleisch, das er Mama mitgebracht hat, im Kühlschrank verstaut ist, tauschen wir hastig unsere Adressen aus, dann ist er auch schon wieder verschwunden. »Ich muss los, meine Frau wartet mit dem Essen«, murmelt er entschuldigend. Er flieht regelrecht.
    Mit Mama hält er regelmäßig Kontakt, schaut öfter bei ihr vorbei. Auch ich hoffe, ihm demnächst in etwas unverkrampfterer Atmosphäre noch einmal begegnen zu können. Trotz der langen Trennung bedeutet Mirko mir weiterhin viel, immerhin einen uns elementare Erfahrungen.
    Zum Abschied liege ich meiner Mama noch einmal in den Armen. Ich kann kaum genug bekommen von der lange vermissten Nähe. Natürlich können wir nicht einfach anknüpfen an jenen Schicksalstag vor zwei Jahrzehnten, der uns entzweit hat. Ich muss diese Frau trotz aller Vertrautheit neu kennenlernen. Bruchstückhaft erahne ich, was meine Mutter seitdem durchzustehen hatte, was aus ihr, im Wortsinn, eine gebeugte Frau gemacht hat. Als Folge der Haft leidet sie an einer Mangelerkrankung, trägt einen Herzschrittmacher in der Brust und traumatische Erinnerungen im Kopf. Die Frau, die ich an mich drücke, ist sichtbar von ihrem unbarmherzigen Leben gezeichnet.
    Ich lasse sie zurück, in der beruhigenden Erwartung, dass wir uns schon bald wiedersehen. Erleichtert spüre ich, wie die Last der Ungewissheit von mir abfällt. Die Kluft, die mein Leben in zwei Teile getrennt hat, ist überbrückt. Wenn wir uns auch erst annähern müssen und ich mit meinem über Jahre gewachsenen Misstrauen zu kämpfen habe: Endlich sind wir vereint, ich habe meine Mama wieder. Diese äußerlich gebückte und zugleich innerliche Unbeugsamkeit ausstrahlende Frau, die uns vom Fenster aus nachwinkt, ist das bisher fehlende Verbindungsstück zwischen meinen zwei Leben.

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    A uf der Rückfahrt vom Besuch bei meiner Mama im Auto fragte ich Olaf, was er von den

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