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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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stattgefunden hat. Ich vermag jedenfalls nicht zu erkennen, wo die Grenze zwischen Interpretation und Wirklichkeit verläuft.
    Meinen Mann muss Mamas Bericht noch mehr befremden als mich, aber er hört regungslos zu, ohne einen Kommentar abzugeben. Von mir kennt er zwar in groben Zügen die Hintergründe meiner Adoption, allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass sein DDR -Bild mit den geschilderten Zuständen in Einklang zu bringen ist. Vermutlich hält er Mamas Sichtweise zumindest für übertrieben. Doch über solche Fragen kam es seit der Wende nie zum Gespräch zwischen uns, wie Mehltau lastet dieses Tabu auf unserer Ehe.
    Überraschend kommt irgendwann der Mann an Mamas Seite, der an diesem Tag auswärts zu tun hat, für einen kurzen Moment herein, um uns zu begrüßen. Er ist ein kräftiger, ähnlich dunkelhaariger Typ wie mein Vati. Sein freundliches Lächeln und der verwegene Schnauzbart verleihen dem Arbeiter in der Pappe-Herstellung ein sympathisches Erscheinungsbild. Auch er lässt mich keinen Vorbehalt und keinen Argwohn spüren. Das hilft mir, mich in Mamas Welt vertraut zu fühlen. Als ich zwischenzeitlich die Toilette im Hinterhaus aufsuche, wird mir allerdings erst richtig bewusst, unter welch kärglichen Umständen meine Mutter hier haust. Die Sanitäranlagen bestehen lediglich aus einem primitiven Plumpsklo. Bereits im Flur nehme ich den muffigen Geruch wahr, den die feuchten Hausmauern absondern, und unter dem bröckelnden Putz der Wände schimmern bläuliche Schimmelflecken. Meine arme Mama. Ihr Leben steht offensichtlich weiterhin unter keinem glücklichen Stern.
    Nach meiner Rückkehr beginne ich mit einem Geständnis. »Deine Adresse trage ich nun schon über ein Jahr mit mir herum, aber mir hat einfach der Mut gefehlt, mich bei dir zu melden«, gebe ich ihr bedrückt zu verstehen.
    »Ach, meine Maus«, sagt sie nur und drückt mich fest an sich. Sie ist voller Verständnis.
    Wieso nur habe ich so lange gezögert, sie wiederzusehen? Die Vertrautheit der eigenen Mutter, das unbeschreibbare Erlebnis tiefer Geborgenheit, das ich immer suchte – hier ist es. Diese Frau ist meine Mama. Ihre Stimme, ihre Augen, ihre Gesten, all das erkenne ich jetzt wieder, auch weil ich vieles davon an mir selbst wiederfinde. Diese Frau ist nicht die verächtlich verdammte Staatsverräterin, sie ist meine geliebte Mutter, und ich bin ein Teil von ihr.
    Ich fühle mich sehr wohl in dieser neu entdeckten Geborgenheit und schiebe den Moment der Abreise vor mir her. Ich habe den Eindruck, dass ich nicht einfach abrupt gehen kann, als wäre unser Wiedersehen nur ein nettes Kaffeekränzchen gewesen.
    So stimme ich nach einem kurzen Blickwechsel mit Olaf ger-ne zu, als Mama uns vorschlägt, sie auf das Bockbierfest im Ort zu begleiten. Anschließend könnten wir alle zusammen selbstverständlich bei ihr übernachten. Melanie, die mit den Kindern zurückgekommen ist, erklärt sich sofort bereit, Julia und Benni am Abend zu hüten, damit wir ausgehen können.
    Schon vor dem Eingang der Gaststätte am Dorfplatz empfangen uns die Rauchschwaden eines großen Schwenkgrills. Unsere Männer, die offenbar sofort einen Draht zueinander gefunden haben, haben wir weit hinter uns gelassen. Die anwesenden Festbesucher begrüßen meine Mutter mit herzlicher Vertrautheit. Sie ist hier offenkundig voll und ganz integriert, ihre Mitmenschen mögen und schätzen sie. Ich überlege, dass sie wohl kaum ein schlechter Mensch sein könne, wenn sie bei anderen so beliebt ist. Mit ehrlicher Freude stellt sie mich allen Bekannten als ihre Tochter vor. Zahlreichen neugierigen und abschätzenden Blicken muss ich an diesem Abend standhalten. Aber für meine leibliche Mama bin ich keine Präsentiertochter zum Nachweis ihrer eigenen Leistung. Ihr Mutterstolz kommt von Herzen.
    Den Arm um meine Hüfte geschlungen, nimmt sie mich geradezu beflügelt mit in den gemütlich eingerichteten Festsaal. Etwa vierzig Einheimische haben es sich an U-förmig aneinandergereihten und mit weißen Tischdecken bezogenen Tafeln bequem gemacht. Als wir das Kopfende des Raumes erreichen, verschafft Mama sich mit der freien linken Hand Aufmerksamkeit.
    »Ich will euch mal jemanden vorstellen«, ruft sie in das lebhafte Gemurmel hinein. »Das hier ist meine Tochter Katrin!« Triumphierend fügt sie hinzu: »Seht ihr, ich hab’s immer gewusst, dass meine Katrin mich eines Tages findet!«
    Ein warmes Gefühl durchströmt meine Brust. Mama teilt ihre Freude, ihr Glück

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