Entrissen
dämmerte vor sich hin, ließ sich widerstandslos Nahrung einflößen. Unterstützt von meiner Tante Marianne und ihrem Sohn Michael, die beide nach wie vor in der Nachbarschaft lebten, wachte ich an seinem Bett, gab ihm die nötigen Tabletten und Spritzen.
Gegen Abend wurde der Patient vom Todeskrampf geschüttelt. Verzweifelt trommelte ich mit beiden Fäusten auf seinen Brustkorb und schrie den Sterbenden an: »Du darfst mich nicht alleinlassen! Ich brauche dich doch noch.« Ein Heulkrampf erstickte meine Worte. Um den Spasmus abzumildern, blieb der Hausärztin nur, Vati in einen künstlichen Schlaf zu versetzen.
Mutti hielt sich fern, plötzlich von »wichtigen« Erledigungen abgehalten. Sie konnte es nicht ertragen, ihren geliebten Mann in seinem Leid und Elend zu erleben. Als es mit ihm deutlich dem Ende zuging, verkroch sie sich, unter Einnahme von Schlaftabletten, ins Bett. Ich konnte gerade noch verhindern, dass sie eine Überdosis schluckte. Wie früher, wenn sie sich überlastet fühlte, neigte sie dazu, sich zurückzuziehen und mir die Verantwortung zu überlassen.
Gegen sechs Uhr morgens, nach einer weiteren durchwachten Nacht, merkte ich, wie Vati buchstäblich die Luft ausging. Eine halbe Stunde später war er für immer eingeschlafen. Ich brachte es nicht fertig, seine Haut zu berühren oder mich von ihm zu verabschieden.
Zwei Tage vor seinem Tod hatte er zum ersten Mal einen Satz über die Lippen gebracht, der mir bis heute unendlich wertvoll erscheint: »Katrin, ich weiß, dass ich dir oft nicht genügend Beistand geleistet habe. Das tut mir sehr leid! Aber eines sollst du wissen: Ich hab dich lieb.«
Es war etwas, was ich immer gespürt hatte. Aber erst jetzt, am Ende seiner Zeit, vermochte er mir das offen zu sagen. Ich musste um Fassung ringen und ging zum Weinen vor die Tür. Mit ihm verlor ich den einzigen Menschen, der mir dauerhaften Halt in meinem Leben gegeben hatte.
Mutti unterstrich diesen Eindruck auf ihre unnachahmliche Art. Noch bevor Vatis Leichnam in die Erde gesenkt wurde, hatte sie offenbar nichts Eiligeres zu tun, als bei seiner Lebensversicherung den Todesfall zu melden. An seinem letzten Tag hatte sie ihn im Stich gelassen, und jetzt ging es ihr nur wieder um Geld, auf das sie nun wirklich nicht existenziell angewiesen war.
Ich war außer mir und warf ihr Pietätlosigkeit vor.
Empört über meine Anmaßung, schleuderte sie mir entgegen, was meinen lange schon schwelenden Verdacht bestätigte: »Ich sag dir mal eins: Von mir aus wärst du damals längst ins Kinderheim zurückgekommen. Dass wir dich behalten haben, hast du nur Vati zu verdanken, weil er es nicht zugelassen hat.«
Warum sagte sie mir das, ausgerechnet jetzt? Wollte sie mir, in die Defensive gedrängt, zu verstehen geben, dass sie mich in Wirklichkeit nie gemocht hatte? Dass ich mein Bleiberecht in ihrem Haus nur dem Willen meines Adoptivvaters zu verdanken hatte? Dass ich nun, mit seinem Tod, auch meine Zugehörigkeit zu meiner Adoptivfamilie dauerhaft verwirkt hatte? War ich für immer ausgeschlossen? Hatte sie selbst Sören, dem ich alle Zuwendung meiner Jugendjahre geschenkt hatte, gegen mich eingenommen, der sich in diesen Tagen so offenkundig von mir zurückzog?
Auch ohne die harsche Reaktion meiner Mutti begriff ich, dass es in erster Linie Vati gewesen war, dessen Rückhalt mich in diesem Haus gehalten hatte. Mit seinem Tod reduzierte sich mein Tochterdasein auf eine bloße Duldung. Ich gehörte zwar noch irgendwie lose zur Familie, aber wirklich willkommen konnte ich mich nun nicht mehr fühlen.
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31 .
D er Verlust meines Vaters setzte mir mehr zu, als ich mir eingestehen wollte. Sein Tod verstärkte meine innere Einsamkeit. Fortwährende Migräneanfälle waren der körperliche Ausdruck meiner Trauer und bewogen mich, psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen.
»Sie können in einer Verhaltenstherapie lernen, mit dem Schmerz über den Verlust ihres Vaters umzugehen«, sagte der Psychologe, den ich daraufhin aufsuchte. »Aber in Ihnen steckt eine viel tiefer sitzende Trauer, die schon vorher bestand. Wenn Sie da wirklich heranwollen, kann Ihnen nur eine tiefenpsychologische Therapie helfen.«
Ich spürte unwillkürlich, dass seine Einschätzung stimmte. Ich wusste, da gab es die kleine, zerbrechliche, hilfesuchende Katrin in mir. Doch ich wollte dieses Kind nicht sehen, ich scheute jede Konfrontation mit ihm. Vehement lehnte ich dieses hilfsbedürftige Mädchen ab, das ich am liebsten
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