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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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andere über meinen Kopf hinweg entschieden. Ich hatte mich nicht mit angeblichen Sachzwängen und Notlösungen arrangiert, sondern von mir aus die Initiative ergriffen. Ich war im Begriff, vom Passiv ins Aktiv hinüberzuwechseln.

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    32 .
    E in Zufall half mir auf dem weiteren Weg zur Selbstfindung. Trotz des künstlichen Taktgebers beeinträchtigte mein schwaches Herz mein Befinden weiterhin erheblich und hielt mich von der Rückkehr in meinen erlernten Beruf ab. Ersatzweise musste ich in einem türkischen Imbissladen arbeiten und in einer Hellersdorfer Gaststätte kellnern, wobei mir die zu Jugendzeiten erlernte Anpassungsfähigkeit zugutekam. Da mein Grunddilemma ungelöst blieb und sich mein Zustand in der Folge auch im neuen Jahrtausend nicht besserte, bekam ich, wie bereits fünf Jahre zuvor, noch einmal eine Erholungskur verschrieben. Im Verlauf der Anwendungen führte ich im Herbst 2002 ein weiteres Beratungsgespräch mit einem Psychologen, der mir abermals eindringlich riet, eine tiefenpsychologische Therapie zu beginnen. Nun endlich, nach manchen Tiefschlägen, war ich allmählich bereit anzuerkennen, dass es nicht nur gesundheitliche Mängel waren, die meinen Antrieb schwächten und mich lähmten.
    Dank der unbürokratischen Unterstützung durch meine Krankenkasse konnte ich schon drei Wochen später den therapeutischen Weg in meine Vergangenheit antreten. Die versierte Psychotherapeutin im Ostberliner Stadtteil Hohenschönhausen, die mich dabei ein halbes Jahr lang begleitete, verhalf mir zum ersten Mal zur Begegnung mit der kleinen Katrin, deren kindlicher Schmerz mein Seelenleben schon all die Jahre belastete. Im inneren Dialog mit ihr hatte ich endlich erkennbar vor Augen, was mir in früher Kindheit widerfahren war.
    Doch die Trauer, der ich in den Gesprächen nachspürte, holte mich auch außerhalb der Therapieräume bisweilen abrupt und unvermittelt ein. Im Frühjahr 2003 war ich gerade auf der Heimfahrt von einer Sitzung, als im Autoradio der Song »Kein Zurück« von Wolfsheim lief – Ablenkungsmusik. »Ach, und könnte ich doch nur ein einziges Mal die Uhren rückwärtsdrehen. Denn wie viel von dem, was ich heute weiß, hätte ich lieber nie gesehen.« Der Liedtext ging mir unter die Haut. »Immer vorwärts. Schritt um Schritt. Es geht kein Weg zurück.« Ich spürte förmlich, wie eine unsichtbare Hand mein Herz umklammerte und zusammenpresste. »Was jetzt ist, wird nie mehr ungeschehen. Die Zeit läuft uns davon. Was getan ist, ist getan. Und was jetzt ist, wird nie mehr so geschehen.«
    Ich konnte nicht mehr weiterfahren, musste meinen Wagen umgehend an den Straßenrand steuern. »Es geht kein Weg zurück.« Tränen verschleierten mir die Sicht, doch mir erschien es in diesem Moment, als würden sie meinen Blick klären. »Es geht kein Weg zurück.« Diese Zeilen entsprachen meiner Wirklichkeit. Meine Beziehung zu Mama und Mirko ließ sich im Nachhinein nicht mehr zu einer Einheit zusammensetzen, und auch die Unbefangenheit meines Kindseins vor unserer Trennung würde ich nie mehr erlangen.
    Kaum zu Hause, schrieb ich mir, wie von der Therapeutin empfohlen, mein Leid von der Seele, in einem seitenlangen Brief an meine leibliche Mutter. Die Tinte auf dem Papier verschwamm unter den vielen Tränen. Ich war es leid, keine befriedigenden Antworten auf die Ungewissheiten, die mich tief im Inneren plagten, zu finden. »Warum warst Du damals nicht da, als ich Dich gebraucht hatte?«, klagte ich meine Mama in dem Schreiben an. »Warum hast Du das Risiko Deiner Verhaftung auf Dich genommen? Du wusstest doch, wie groß die Gefahr damals für uns alle war?« Zugleich versicherte ich ihr, dass meine Liebe zu ihr nie aufgehört hatte und ich ihr von Herzen alles Liebe wünschte. Den fertigen Brief schickte ich nie ab, sondern verbrannte ihn. Es gab keinen Weg zurück. Ich fand einfach nicht den Zugang zu meiner leiblichen Mutter. Zu viel Enttäuschung und Schmerz, die durch meine Beschäftigung mit meiner Kindheit neu spürbar wurden, lagen zwischen uns. Gerade in dieser Phase der Verunsicherung suchte ich nach einer Stütze. Ich klammerte mich an alles, was auf dem schwankenden Boden, auf dem ich durchs Leben ging, Halt versprach. So packte ich am 28 . Juni 2003 die Kinder und einige Habseligkeiten, um in meine Heimatstadt Gera zurückzukehren. Hier hoffte ich auch auf Ruhe vor den Nachstellungen meines Ex-Mannes. Es war wie das Eingeständnis eines gescheiterten Ausbruchsversuchs. »Es gibt

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