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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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während andere Funktionäre dieses Staates mich gleichzeitig den Treueschwur auf ihn lehrten, überkam mich blanke Wut. Am meisten entsetzte mich, wie leicht manipulierbar ich als adoptierte Jugendliche gewesen war.
    Um meinen Zorn nicht ins Leere laufen zu lassen, beschloss ich, mich endlich offensiv meinem Lebensthema zu stellen. Nach all diesen Offenbarungen überwand ich mich, endlich auch die Schattenseiten der DDR -Wirklichkeit ins Sichtfeld zu nehmen. Vorsichtig, in verträglichen Portionen, begann ich mich mit der Geschichte meines Landes auseinanderzusetzen. Mir schien, als müsste ich eine Materie, die mir eigentlich nicht fremd war, von Grund auf neu erlernen, da ich sie nun aus einem ungewohnten Blickwinkel betrachtete. Mit meinem persönlichen DDR -Erlebnis ließ sich nicht in Einklang bringen, was ich über Perfidie und Menschenverachtung erfuhr.
    Natürlich hatte ich auch schon vor 1989 Erfahrungen gemacht, die mich irritierten, etwa als mein Ehemann seine Untergebenen auf der Straße demütigend zum Grüßen nötigte. Diese Momente hatten mich zwar befremdet, aber nicht meine Grundüberzeugung berührt, in einem fortschrittlichen, positiven Zielen verpflichteten Heimatland zu leben. Selbst nach der Wende hegte ich an der grundsätzlichen Redlichkeit meiner Republik zunächst kaum Zweifel. Das stolze Selbstbewusstsein, mit dem die DDR sich zu Lebzeiten in der Welt behauptet hatte, die Fahnen, Uniformen, Treuebekundungen, all das wirkte auf mich immer noch sehr vertraut.
    Je intensiver ich meine Nachforschungen betrieb, desto offenkundiger erwies sich die Vorstellung von meinem Staat als Irrglaube. Ich begann seine Oberfläche als Fassade zu begreifen, hinter der sich ein prägender Wesenszug verbarg, in Arrestzellen, Verhörzimmern, Amtsstuben. Meine Weltsicht kippte: Was ich früher fest geglaubt hatte, erweckte jetzt mein Misstrauen.
     
    Mit wachsender Neugier sog ich während der nächsten Wochen alles in mich auf, was sich zum Thema Adoption finden ließ. So sehr hatten mich meine Lebensumstände all die Jahre absorbiert, dass ich konsequent ignoriert hatte, was mich persönlich betraf. Im Westen hatten die Medien bereits Mitte der siebziger Jahre berichtet, dass die DDR Republikflüchtlingen das Sorgerecht für ihre Kinder entzog und deren Betreuung in eigener Regie regelte. Der
Spiegel
erfand für diese Praxis den Begriff »Zwangsadoption«. In der Westpresse folgten damals eine Reihe ähnlicher Erfahrungsberichte, Dementis, aber auch partielle Zugeständnisse von Seiten der DDR -Führung.
    Erst in jüngster Zeit erbrachten wissenschaftliche Untersuchungen von Adoptionsakten den Nachweis für den staatlich gesteuerten Kindesentzug: Kinder von ideologierenitenten Eltern wurden ohne deren Einverständnis einer systemkonformen Heim- oder Familienerziehung ausgeliefert. Mit anderen Worten: Zwangsadoptionen sind keine Erfindung der Gerüchteküche aus den Zeiten des Ost-West-Konflikts, sondern nachweisbare Realität.
    Mehr als fünfundsiebzigtausend sogenannte »Inkognitoadoptionen«, bei denen die leiblichen Eltern in Unkenntnis darüber bleiben, wohin ihre Kinder vermittelt wurden, sind inzwischen dokumentarisch belegt. Allerdings besagt diese Bezeichnung noch nichts darüber, in welchem Maß gegen den Willen der Beteiligten gehandelt wurde. Es zeichnet sich nämlich gleichfalls ab, dass der ideologiebedingte Sorgerechtsentzug bei weitem nicht in solchen Dimensionen vorkam, wie vielfach unterstellt. Oft sind die Grenzen zwischen staatlicher Fürsorgepflicht und doktrinärem Zwang aus heutiger Sicht nicht mehr klar zu trennen. Bei näherer Betrachtung scheint so manche vermeintlich politisch diktierte Entscheidung zur Adoptionsfreigabe durchaus dem Wohl der Kinder geschuldet, etwa um sie vor Verwahrlosung oder Missbrauch zu schützen. Daher lässt sich die korrekte Anzahl der Zwangsadoptionen statistisch nicht seriös beziffern, was die Tragödie jedes einzelnen Schicksals jedoch in keiner Weise relativiert. Nach aktuellen Schätzungen haben die DDR -Behörden zumindest mehrere hundert Kinder ihren leiblichen Müttern weggenommen.
    Formell achteten die zuständigen Beamten stets darauf, dass die verfügten Maßnahmen im Einklang mit den geltenden Gesetzen standen. Auch in der DDR -Verfassung waren der besondere Schutz der Familie und das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder verankert. Allerdings gab es eine gravierende Einschränkung gegenüber dem Selbstverständnis freiheitlicher

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