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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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gewann die andere an Bedeutung für mich. Dennoch war mir jetzt ganz flau zumute, Und ich hatte das dringende Bedürfnis, Abbitte zu leisten.
    »Es tut mir unendlich leid, dass ich all die Jahre dir gegenüber so misstrauisch war«, begann ich stockend, als ich ihre Stimme am anderen Ende der Leitung vernahm. »Mir ist erst jetzt, durch die Akteneinsicht bei der Jugendhilfe, bewusst geworden, wie fest ich an die Lügen geglaubt habe, die man mir immer wieder aufgetischt hat.«
    Auch diesmal hörte ich keinen Ton der Verbitterung aus Mamas Antwort. Es kam mir so vor, als läge es in ihrer Weitsicht, dass
DIE
ihr die Tochter entfremdet hatten.
    »Katrin«, sagte sie, und dieses Mal vermochte ich ihr auf Anhieb zu glauben, »du warst das einzige Druckmittel, das sie gegen mich in der Hand hatten. Sie wollten mich damit erpressen, dich mir wegzunehmen.« Mama ließ mir Zeit, ihre Aussage auf mich wirken zu lassen. Kinder im Tausch gegen Anpassungsbereitschaft an das System? »Aber das habe ich nicht zugelassen«, fügte sie hinzu.
    Jetzt fiel mir wieder ein, was Mama mir einmal erzählt hatte, ohne dass ich ihre Schilderung für bare Münze genommen hatte. Um in der Haftzeit ihr Einvernehmen zu erzwingen, habe man sie 1972 unter verschärften Haftbedingungen in eine Einzelzelle gesteckt. Eines Morgens sei sie in ein Verhörzimmer beordert worden, und der Vernehmungsoffizier habe sie förmlich gefragt, ob sie ihre Meinung geändert habe und mich zur Adoption freigeben werde. »Nur über meine Leiche«, habe sie trotzig erwidert. Daraufhin habe der Vernehmende die Schreibtischschublade geöffnet und ein Papier herausgezogen, das er vor ihr auf den Tisch knallte. »Wir brauchen Ihre Einwilligung gar nicht, hier ist das Urteil«, lautete sein lapidarer Kommentar.
    Meine Mama habe irritiert auf das Dokument gesehen und gar nicht richtig erkennen können, was da stand. Aber der Offizier nahm ihr, wie sie berichtete, jeden Zweifel am Inhalt. »Das haben wir schon erledigt. Wir haben die Adoption bereits verfügt. Wir brauchen ihr Einverständnis nicht!« Das Ringen um ihre Gefügigkeit erwies sich als Machtspiel. Möglicherweise hatten ihre Peiniger darauf gebaut, im Ringen um die Adoptionsfreigabe eine Gegenleistung, etwa die Bereitschaft zur Spitzeltätigkeit, aushandeln zu können.
    Vergeblich. Denn sie war, wie sie mir damals beschrieb, auf diese Erklärung hin regelrecht ausgerastet. Schließlich hatte sie von da an nichts mehr zu verlieren. Ihre Schutzbefohlenen waren der Heimerziehung anvertraut, und nun sollte ihr ihre Jüngste auch noch lebenslang entzogen werden. Mama musste sich in diesem Moment zutiefst betrogen gefühlt haben. Was hatte sie bloß getan, dass ihr das Schlimmste widerfuhr, was einer Mutter zugefügt werden konnte? Mama reagierte nicht mehr besonnen oder überlegt, wie sie zugab. Ihre ausweglose Lage trieb sie in einen regelrechten Tobsuchtsanfall.
    Das Einzige, was sie damit bewirkte, war jedoch verschärfte Einzelhaft. Ihr Aufbegehren gab den Verantwortlichen Anlass, die Gefangene weiter zu schikanieren und zu drangsalieren. Irgendwann hatte die Staatsgewalt ihr Ziel erreicht. Sie hatte den Lebensmut meiner Mutter gebrochen.
    Die Existenz, die sie nun unter kargen Bedingungen fristete, erschien mir wie der Nachhall ihres zerrütteten Lebens. Es war ihr unverkennbar peinlich, andere Menschen an sich heranzulassen, ihr Dasein zu offenbaren. Sie wich dem Gespräch über ihre schlimmen Erfahrungen auch dann noch aus, als der Unterdrückungsapparat längst Geschichte war. Wenngleich wir in dieser Zeit wieder regelmäßig miteinander telefonierten, spürte ich deutlich, dass sie mich um keinen Preis mit ihrer tristen Befindlichkeit belasten wollte.
    Meine Mama ließ keine Gelegenheit aus, zu beteuern, wie stolz sie auf mich sei. Gleichzeitig ging sie unverkennbar auf Abstand. Gerade mir gegenüber wollte sie nicht zeigen, was sie in Wirklichkeit war: nur noch ein Schattenriss jenes Mutterbildes, das ich mir seit früher Kindheit bewahrt hatte, von einem schweren Leben gezeichnet. Auch wenn ich nun endlich mein Misstrauen überwunden hatte, ließen sich unsere zwei unterschiedlichen Lebenswege nicht einfach so wieder zusammenführen.
    Jedes Mal, wenn ich mir nach einem dieser Telefonanrufe vor Augen hielt, dass es die Handlanger eines Zwangsapparates waren, die uns entzweiten, jedes Mal, wenn ich daran denken musste, wie sie in der Einzelzelle die Selbstbehauptung meiner Mama zu brechen versucht hatten,

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