Entrissen
Begleiter in das Tauchbecken, dessen gefühlte Temperatur der des Polarmeeres gleichkam. Wasser kannte ich bisher nur aus der Badewanne, aber dieses Becken war nicht nur zum Erbarmen kalt, es war auch so tief, dass ich Angst hatte unterzugehen, wenn mich die Kraft verlassen würde. Das konnten sie mit mir nicht machen!
So verweigerte ich mich der Aufforderung, es ihnen nachzutun, kategorisch. Die Erwachsenen schien mein Sträuben eher zu amüsieren. Sie neckten mich, nannten mich einen »Schisser« und bespritzten mich mit einem eiskalten Schauer. »Komm schon«, rief meine Pflegemutter, »das ist doch nur Wasser. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Genau das war aber das Problem. An der Hand einer vertrauten Bezugsperson hätte ich mich sicher überwunden, in das kalte, tiefe Wasser zu steigen. Aber hier traute ich niemandem. Ich verspürte kein Verlangen nach einer Mutprobe mit ungewissem Ausgang. Bemerkte denn niemand meine Angst? Mir blieb nichts anderes übrig, als zu feilschen: Wenn ich ins Wasser stieg, dann nur um den Preis, das Becken sofort wieder verlassen zu dürfen. Widerstrebend wurde mir die Bitte bewilligt.
Nach dem Kälteschock flüchtete ich auf eine Liege, rollte mich mit angezogenen Beinen in mein Handtuch und verharrte regungslos in Igelhaltung. Ich fühlte mich unverstanden und elend. Die verbleibende Zeit nach diesem Abenteuerurlaub verbrachte ich hauptsächlich im Schmollwinkel. Schließlich wusste ich sowieso, dass ich aus der schicken Plattenbauwohnung der Ärztin bald wieder ins Heim zurückkehren würde.
Bis zuletzt ließ meine Pflegemutter nicht davon ab, mich mit weiteren Zumutungen zu traktieren, die sie vermutlich als Wohltaten betrachtete. Die Medizinerin schwor auf ihre eigene Gesundheitsphilosophie. Heilsamer Ernährung etwa maß sie eine große Bedeutung zu, und in gewisser Hinsicht war sie darin sogar ihrer Zeit voraus. Allerdings neigte sie dazu, ihre Prinzipien wie Medizin zu verordnen. Sie bemühte sich nicht, mich auf schonende Weise von meinem Heil zu überzeugen, sondern ließ einfach keinen Widerspruch gelten.
Mischbrot aus Weißmehl, das ich von klein auf mit Camembert oder Leberwurst zu verzehren liebte, entsprach ihrer Ansicht nach quasi einem Anschlag auf meine Gesundheit. Stattdessen tischte sie mir mit Vorliebe Pumpernickel auf, dessen Geruch allein ich widerlich fand. Es mochte ja durchaus gesund sein, aber mir schmeckte dieses Brot einfach nicht. Auch hier kannte Frau Dr. Denzer jedoch keine Gnade. »Du isst diese Stulle jetzt auf, und zwar bis zum letzten Krümel«, hieß es mehr als einmal beim Abendbrot. Eingedenk ihrer Ohrfeige schob ich mir das Zeug trotzig in den Mund. Meinen Widerwillen konnte ich dadurch nicht überwinden. Ich musste die Brocken hinterher einfach wieder ausspucken. Bis heute habe ich meine Abneigung gegen diese Brotsorte beibehalten – durchaus zu meinem Bedauern.
Für meine Pflegemutter jedenfalls stand fest, worin das Problem bestand: Ich war offenkundig ein kompliziertes, anstrengendes Kind. Gegenüber der Jugendfürsorgerin beklagte sie, wie ich später in den Akten nachlas, »Schwierigkeiten in der Erziehung des Kindes«. So begründete sie im Herbst 1973 ihren Wunsch, mich in das Kinderheim zurückzubringen. Offenbar war ich der passionierten Kinderärztin und -psychologin nicht pflegeleicht genug. Von unserer einvernehmlichen Absprache, meinen Aufenthalt bei ihr zu beenden, findet sich keine Spur in den Akten. Auf meine körperliche Gesundheit war sie durchaus stets bedacht, meinen Gemütszustand und mein Seelenleben aber hat sie nie begriffen. Am Ende war sie mit Sicherheit erleichtert, die Belastung durch mich wieder abschütteln zu können.
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7 .
I m Oktober 1973 saß ich zum letzten Mal auf der Rückbank des Wartburgs, diesmal auf dem Weg zurück nach Gera. Während der Fahrt, die wieder einmal in befremdlichem Schweigen verlief, wurde mir dann doch etwas mulmig zumute. Wie würde mich die gefürchtete Erzieherin aufnehmen? Würde sie mir auf ihre höhnische Art zu verstehen geben, dass es sich bei mir um einen hoffnungslosen Fall handelte? Würden mich die anderen Kinder auslachen, was ich mehr als jede Ohrfeige fürchtete? Hatte meine Mama mich in der Zwischenzeit gesucht? Und nicht gefunden, da ich ja ausgeflogen war? Mein Herz schlug schneller, als Frau Dr. Denzer die Klingel der Villa drückte.
Zu meiner Überraschung bereitete die Heimleiterin mir einen warmherzigen Empfang, nachdem die Ärztin sich rasch
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