Entrissen
schloss aus den überlieferten Aussagen von Frau Dr. Denzer, dass ich mit meiner Verweigerungshaltung bei den zuständigen Stellen als eher störrisches Problemkind galt, das sich immer noch zu sehr an sein früheres Leben klammerte. Mit dem Kurzbesuch meiner Großmutter im Heim sollte offenbar mit Macht ein Schlussstrich gezogen werden, um mich auf eine vorbestimmte Lebensbahn zu leiten. Mein Klammergriff musste ein für alle Mal gelöst werden, und das konnte nur jemandem gelingen, dem ich noch ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenbrachte.
Heute begreife ich, wie viel Überwindung es die alte Frau damals gekostet haben mag, mir ihre Botschaft zu überbringen. Ihre ganze Liebe und Gefühlsnähe musste sie verborgen halten, um mir den Abschied nicht noch schwerer zu machen. Ich weiß, wie sehr sie an meinem Bruder und mir hing.
Ich habe nie im Detail erfahren, wie die Behörden meine Großmutter dazu gebracht haben, diese schwierige Mission auf sich zu nehmen. Weil sie nach Aktenlage damals noch in Kontakt zu Mirko stand, könnte es sein, dass man ihr gedroht hat, ihr auch noch den anderen Enkel zu entziehen, wenn sie nicht bereit wäre, mich zur Läuterung zu bewegen. Da meine Oma zudem Parteimitglied der SED war, lag es ihr vermutlich sowieso fern, an den Entscheidungen und Verfügungen der Staatsgewalt zu zweifeln. Vielleicht hat sie sich auch in die unvermeidlichen Sachzwänge gefügt und eingesehen, dass sie wenigstens dazu beitragen müsse, mich vor einer Heimkarriere zu bewahren.
Im Rückblick bin ich ihr dafür sogar dankbar. Aus heutiger Sicht erscheint es mir als das Beste, was sie unter den damaligen Umständen für mich tun konnte. Ich weiß sehr wohl zu schätzen, welche Odyssee durch Heime, Betreuungsanstalten und wer weiß welche geschlossenen Einrichtungen noch mir durch die Abkehr von meiner Trotzhaltung erspart geblieben ist. Deshalb empfinde ich auch großes Mitgefühl für meine Oma, der die Behörden eine erhebliche Selbstverleugnung abverlangt haben. Ich konnte es ihr leider nicht mehr sagen.
Damals jedoch erschien es mir unfassbar, wie meine engste verbliebene Verwandte mich so unbarmherzig abservieren konnte. Das Treffen mit meiner Oma war einer jener Wendepunkte, die sich derart in mein Gemüt gebrannt haben, dass ich nur unter Tränen daran zurückdenken kann. Alles um mich herum war dunkel an diesem Oktobertag im Jahr 1973 . Nun hatten sie mich alle im Stich gelassen. Erst Mama, dann Mirko, und nun hatte sich auch noch Oma aus meiner Sicht davongeschlichen – und mit ihnen meine Kindheit, mein Lachen, die Spiele, die Erziehung. Alles, was mir meine Mutter einmal als richtig beigebracht hatte: Ehrlichkeit, Liebe, Vertrauen. Ich fühlte mich leer.
Außerdem war ich es so leid, denn jetzt fing die Heulerei wieder an. So schnell ich konnte, stürmte ich die Treppe hoch und verschanzte mich in meinem Schmollwinkel hinter den Geländerpfosten. Hier oben gab es kein Halten mehr. Ich weinte heftiger als jemals zuvor.
Irgendwann hielt die Heimleiterin Ausschau nach mir. Vorsichtig stieg sie die Treppe hoch und näherte sich mir wie einem störrischen Tier, das man wieder einzufangen versucht. Merkte sie denn nicht, dass ich jetzt niemanden um mich brauchen konnte, dem ich mein verweintes Gesicht offenbaren musste und der mir doch keinen Trost spenden konnte? Die Direktorin nahm mich in den Arm, ich fühlte mich aber nicht gehalten, sondern umklammert. Lasst mich doch einfach in Ruhe!, hätte ich am liebsten gerufen. Mir war in diesem Moment wohl nichts recht zu machen. Ich sehnte mich nach Nähe, und zugleich wies ich sie zurück. Sie sprach beruhigend auf mich ein, aber das half mir auch nicht weiter.
Immer wieder war meine Hoffnung aufgeflammt, dass sich Mama mit mir versöhnen und mich hier herausholen würde oder dass zumindest Oma mich zu sich nehmen könnte. Unzählige Wochen und Monate hatte ich damit zugebracht, zu warten, zu bangen und zu hoffen. Und nun sollte jede Hoffnung zunichte sein? War denn alles vergebens? Ich hatte versucht, mit meiner Angst vor der Außenwelt fertig zu werden. Immer wieder von neuem hatte ich mich aufgerappelt, um irgendwie auf meinen eigenen Beinen zu stehen. Doch nun schienen alle Stützen weggebrochen, in einem einzigen Augenblick. Eine Tür, die sich schloss, und das Machtwort war gesprochen, das Urteil über mich gefällt.
Es klingelte, Frau Heinze wurde ans Telefon gerufen. Obwohl ich ein wenig schmollte, dass alles andere für sie wieder mal
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