Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
Vom Netzwerk:
in eher unterkühltem Tonfall verabschiedet hatte. »Mensch, Katrin«, meinte sie und drückte mich liebevoll an sich. »Das ist aber schön, dass du wieder da bist! Richtig groß bist du geworden dort oben.«
    Die Küchenfrauen, die ich auf meinem ersten Erkundungsgang antraf, steckten mir sofort kleine Leckereien zu. Was aber noch wichtiger war: Die blonde Erzieherin, an die ich mit großem Unbehagen gedacht hatte, war nicht da, wenn auch nur für ein paar Tage, da sie dienstfrei hatte. Die Kinder, die schon länger im Heim waren, fanden es zu meiner Beruhigung nicht weiter ungewöhnlich, dass Ausflügler unter Umständen von ihren Aufenthalten in Pflegefamilien wieder zurückkehrten. Sie nahmen mich unbefangen wie eine »alte« Heiminsassin in ihrer Mitte auf und wollten neugierig wissen, was ich alles erlebt hatte. Damit hatte ich die Trumpfkarte in der Hand und stand als Weitgereiste im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Natürlich berichtete ich nur von den Sonnenseiten meines Lebens bei Frau Dr. Denzer. Auf diese Weise vermochte ich mich ein wenig aus der Außenseiterrolle zu lösen.
    Nur wenige Wochen nach meiner Ankunft wartete die nächste Überraschung auf mich, als ich erneut in das Büro der Heimleiterin gerufen wurde. Ich bereitete mich schon darauf vor, einem wartenden Ehepaar gegenüberzutreten, das ein Adoptivkind zur Vervollkommnung seines Hausstandes benötigte.
    Doch die stämmige, resolute Frau mit dem knuffigen Gesicht und den schwarzgrauen Locken, auf die ich in Frau Heinzes Büro traf, kannte ich sehr gut. Es war meine Großmutter. Zum ersten Mal nach eineinhalb Jahren stand sie wieder vor mir. Mein Herz fing heftig an zu rasen. War jetzt der große Moment gekommen? Wie auf Knopfdruck war die Hoffnung wieder da, dass ich nun mit ihr nach Hause gehen durfte, wo vielleicht sogar meine Mama auf mich wartete. Aus welchem anderen Grund sollte Oma mich sonst hier besuchen? Mein dämmerartiger Zustand hatte ein Ende. Alles würde ins Lot kommen und endlich wieder so sein, wie es früher war!
    Meine Großmutter nahm mich an der Hand, zog mich zu sich und sagte in ernstem Tonfall zu mir: »Katrin, komm, wir müssen mal miteinander reden.«
    Das klang schon nicht mehr ganz so hoffnungsfroh. Aber dann verabschiedete sie sich von der Heimleiterin, half mir in mein rotes Mäntelchen und führte mich die Kopfsteinpflasterstraße entlang, die von der Villa in den Stadtpark ging. Um uns herum pulsierte der Alltag wie eh und je, nur dass ich ihn bisher nicht wahrgenommen hatte. Hausfrauen mit ihren Kindern warteten vor einem HO -Laden, einer Filiale der staatlichen Handelsorganisation, wie üblich mit einem mehr als dürftigen Angebot in der Auslage. An der Bushaltestelle neckten sich einige Jugendliche und zogen betont lässig an ihren Zigaretten. Die Bäume am Straßenrand trugen Kronen aus farbenfrohem Herbstlaub.
    Ich war erleichtert. Aber auch irritiert, da mich diesmal niemand aufgefordert hatte, mein Köfferchen zu packen. Musste ich am Ende doch wieder zurück? Trotz ihrer Gesprächsankündigung redete Oma kein Wort mit mir. Wieder dieses betretene Schweigen der Erwachsenen, das für mich zum Inbegriff drohenden Unheils geworden war. Die Frau neben mir passte so gar nicht zu dem Bild, das ich mir von meiner Oma bewahrt hatte. Sie war mir fremd, brachte kein Lächeln zustande, sprach wenig, und wenn sie es tat, dann mit bedrückter und lebloser Stimme. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich spürte die unsichtbare Wand zwischen uns ganz deutlich.
    Wir waren schon auf dem Rückzug zum Kinderheim, als sie sich dann doch überwand, das loszuwerden, was sie wohl schon die ganze Zeit belastete. »Du wirst Mirko und Mama nicht wiedersehen«, begann sie unvermittelt. Auf eine Begründung, warum meine Mutter nicht zurückkommen konnte und wo sie überhaupt steckte, wartete ich vergebens. »Ich selbst kann dich nicht bei mir aufnehmen, dafür bin ich zu alt«, erklärte meine Großmutter mir weiter.
    Diese Sätze trafen mich wie ein Keulenhieb, sie stürzten mich von großer Hoffnung in blanke Verzweiflung. Alle Aussichten auf ein anderes Leben da draußen waren mit einem Satz zerstoben. Ich sah es schon kommen, dass ich für immer im Heim bleiben musste. Mit Trotz und diversen Tricks versuchte ich die Rückkehr zu verzögern. An jedem Baum blieb ich stehen, jede Blume nahm ich in die Hand. Ich bummelte und trödelte wie noch nie. Jeder Meter, den ich noch an der Hand meiner Oma zurücklegen durfte, erschien mir

Weitere Kostenlose Bücher