Entrissen
unendlich kostbar. Sie war die letzte Verbindung zu meinem alten Leben, das mir schon fast wie eine Traumwelt erschien. Sie durfte mich jetzt nicht loslassen. Ich mochte gar nicht hören, was sie gesagt hatte, wollte ihre Worte zurückspulen, auslöschen, ungeschehen machen.
»Du musst mit der nächsten Pflegefamilie mitgehen, hörst du?«, schärfte meine Großmutter mir ein, »sonst musst du für alle Zeit im Heim bleiben. Es ist die letzte Möglichkeit für dich, dort jemals wieder herauszukommen!«
In meinem Kopf drehten sich die Gedanken wie in einem Karussell, schnell, immer schneller. Was kann ich nur tun, damit Oma mich nicht wieder abschiebt in dieses Heim, das sie mir selbst wie eine dauerhafte Falle geschildert hat? Ich musste artig sein, brav, durfte gerade jetzt nicht weinen. Vielleicht war es meine allzu empfindsame Art, die Oma davon abhielt, mich in meine Familie zurückzubringen? Ich werde ein neuer Mensch, beschloss ich. Ich werde alles dafür tun. Ich werde um meine Familie kämpfen.
Schon war die Pforte des Kinderheims bedrohlich nah, die Stelle, die mich für immer von meinem früheren Leben trennen sollte. Ich sprang meine Oma an wie eine Katze, schlang meine Ärmchen um ihren Hals, klammerte mich, so fest es ging, an sie. »Oma, bitte nimm mich mit! Ich bin auch ganz lieb! Ich mache alles, was du willst, glaub mir! Ich will immer artig sein, nur lass mich bitte zu dir!« Ich hätte alles versprochen in diesem Moment, nur um weiter bei ihr bleiben zu dürfen und ihre Nähe zu spüren.
Oma hielt mich fest, damit ich nicht hinfiel, aber sie drückte mich nicht an sich. Keine Regung spürte ich bei ihr, kein einziges Wort sagte sie mehr. Ihre braunen Augen wirkten ausdruckslos. Sicher war sie versucht zu weinen, aber sie hielt die Tränen zurück. Vorsichtig versuchte sie meine Hände zu lösen.
Natürlich war sie stärker als ich. Erwachsene setzten sich immer durch. Ich konnte meinen Griff nicht mehr halten, glitt auf den harten Boden zurück, während sie am Portal des Kinderheims klingelte. Die Tür ging auf, die Heimleiterin, die offenbar Bescheid wusste, zog mich hinein. Oma schob mich buchstäblich ab. Ich konnte mich nicht einmal mehr umwenden, um ihr nachzusehen. Das Tor fiel wieder ins Schloss. Aus, vorbei. Unwiderruflich.
Aus den Augen verlieren – das ist der treffende Begriff für das verblassende Bild meiner Oma. Nach all den Jahren fällt es mir schwer, mir ihr Aussehen ins Gedächtnis zu rufen. Aber ihr Verhalten ist mir nie aus dem Sinn gegangen. Je mehr sich ihr Antlitz verflüchtigte, je greifbarer die Folgen ihrer Abwendung für mich wurden, desto unbegreiflicher erschien mir, was sie getan hatte. Wie kann eine Großmutter ihre geliebte Enkelin aus freien Stücken einer fremden Macht ausliefern?, fragte ich mich als kleines Kind und auch danach wieder und wieder. Doch ich fand keine schlüssige Antwort und keine Rechtfertigung. Ich war zutiefst enttäuscht, fühlte mich verlassen und verraten.
Trotzdem, oder gerade deswegen, wollte ich sie später, als die Mauer längst gefallen war, wiedersehen – widerwillig und neugierig zugleich. Von Verwandten erfuhr ich, dass meine Oma inzwischen nach Westdeutschland umgesiedelt war. 1976 , als sie das dafür notwendige Rentenalter von sechzig Jahren erreicht hatte, hatte sie die DDR verlassen. Daher zog es sich in den neunziger Jahren einige Zeit hin, bis es mir gelang, ein Treffen mit ihr zu arrangieren. Meine Großmutter ließ mich wissen, wie sehr sie sich darauf freute. Dabei hätte ich zu diesem Zeitpunkt den Hader überwinden müssen, den ich immer noch in mir trug, seit ich mich als Kind von ihr an das Heim ausgeliefert gefühlt hatte. Dennoch wollte ich sie unbedingt sehen. Leider ist es nicht mehr dazu gekommen. Kurz vor unserem geplanten Treffen starb sie an einem Herzinfarkt – unserer Familienkrankheit. Mein Groll begleitete sie bis ins Grab.
Erst als ich viele Jahre später aus dem Schriftverkehr der Behörden die Zusammenhänge herauslesen konnte, vermochte ich posthum Abbitte bei meiner Oma zu leisten. Sie hatte es damals nicht selbst in der Hand, mich auf meinem weiteren Lebensweg zu begleiten. Anonym bleibende Gewalten hatten auf dem Amtsweg verordnet, dass ich von meinen engsten Verwandten getrennt und meiner eigenen Familie entfremdet werden müsse. Man hatte meine Großmutter und ihren Einfluss auf mich benutzt, um eine Lösung durchzusetzen, die ihr das Herz ganz sicher schwer gemacht hatte.
Ich
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