Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
Vom Netzwerk:
sind. Mir wäre das auch zuwider, öffentlich derart bloßgestellt zu werden!«
    »Du hast ja keine Ahnung«, belehrte Olaf mich unwirsch. »Wenn du einmal einen Regelverstoß durchgehen lässt, dann kippt bald das ganze Ordnungssystem. Stell dir nur mal vor: Mich beobachtet jetzt jemand, wie ich über diese Unterlassung locker hinwegsehe, und erstattet Meldung. Was glaubst du, was ich dann für einen Ärger bekomme.«
    Ansatzweise begann dieser hierarchische Apparat, über den der angehende Arzt Tommi sich damals bereits beklagt hatte, in meinen Augen befremdliche Züge anzunehmen – und war mir bald so fremd wie gelegentlich mein Mann. Ich vermied es fortan nach Möglichkeit, Olaf zu begleiten, wenn er eine Uniform trug, und fürchtete mich davor, dass uns andere Rekruten begegnen könnten.
    Im März 1989 war die Grenze des Erträglichen erreicht. Es war nichts akut geschehen, es gab keinen triftigen Anlass, aber meine emotionalen Vorräte waren einfach aufgebraucht. Nur zu vertraut war mir die Beklemmung, mein Dasein mit jemandem zu fristen, von dem mich eine unsichtbare Wand trennte. Wir lebten auf engstem Raum zusammen und dennoch die meiste Zeit schweigend nebeneinander her. In meinem Adoptivelternhaus hatte ich niemals gelernt, richtig zu streiten. Die Erwachsenen pflegten ihre Konflikte nicht offen auszutragen, Störungen spürte ich allenfalls atmosphärisch. Daher vermochte ich meinem Mann nicht ins Gesicht zu sagen, was mich traurig stimmte. Ich war unfähig zu gestehen, wie einsam ich mich in seiner Gegenwart fühlte.
    Wenn wir aneinandergerieten, dann ging es meist um seine grundlose Eifersucht oder seine notorische Untätigkeit zu Hause. Gelegentlich rang ich mir dann das Bekenntnis ab: »Olaf, das fehlt mir echt, dass du nicht mehr so zärtlich zu mir bist wie früher. Ich brauch einfach mehr körperliche Zuwendung und nicht nur die schnelle Rein-raus-Nummer …« Seine Antwort bestand meist in der Beteuerung, sich künftig zu bessern. Doch davon war dann bald keine Rede mehr. Heute denke ich, dass Olaf unser Leben lange nicht als so unglücklich empfand wie ich und dass er mich daher nicht verstehen konnte. Damals hatte ich den Eindruck, mir ginge mit der Zeit der Atem aus. Wenn ich eine Zukunft haben wollte, so redete ich mir ein, musste ich die Notbremse ziehen.
    Eines Nachmittags hievte ich daher unseren weinroten Sportkinderwagen mit Julia in den Zug nach Bergen, der Verwaltungsstadt der Halbinsel Rügen. Dort in zentraler Lage sollte sich meines Wissens das Amtsgericht befinden, in dem ich die Scheidung einreichen wollte. Doch am beschriebenen Standort fand sich kein Gericht, auch nicht in der Nähe. Die wenigen Menschen, die ich auf der Straße antraf, konnten mir leider keine Auskunft geben – wie meistens, wenn man Passanten befragt. Je mehr Straßen ich mit dem Kinderwagen abfuhr, desto hörbarer meldeten sich indes innere Zweifel zu Wort. Mit der Scheidung würdest du deiner Tochter den Vater nehmen, pochte mein Gewissen, während ich Julia vor mir im Kinderwagen betrachtete. Sie würde ohne leiblichen Vater aufwachsen, wie du selbst. Dabei hast du immer von einer großen, heilen Familie geträumt. Du denkst doch nur an dich und dein eigenes Wohlergehen.
    Am Ende betrachtete ich die ergebnislose Suche als eine Fügung des Schicksals. Da das Gerichtsgebäude nicht auffindbar war, sollte es eine einseitige Trennung eben nicht geben. Unverrichteter Dinge und seltsamerweise auch etwas erleichtert fuhr ich im Zug nach Binz zurück, wo ich gegen Feierabend eintraf. Auf den Gesichtern der heimkehrenden Werktätigen, von denen die meisten in den landwirtschaftlichen Genossenschaften auf Rügen oder in der Stralsunder Volkswerft arbeiteten, lag der übliche Ausdruck von teilnahmsloser, müder Gleichgültigkeit. Er spiegelte meine eigene Befindlichkeit in dem Moment.
    Bis ich es wagte, mich meinem Mann zu offenbaren, benötigte ich noch einige Tage. Zum ersten Mal sprach ich das unerhörte Wort offen aus: Scheidung. Er tobte nicht, schrie nicht, flehte und bettelte nicht. Olaf wirkte nachdenklich und versprach, sich zu ändern. Seine Antwort klang reumütig und aufrichtig. Damit überzeugte er mich, und ich wollte unserer gemeinsamen Zukunft noch eine Chance geben. Ruhig, aber nachdrücklich ermahnte Olaf mich: »Vergiss nicht, es ist noch nicht einmal drei Jahre her, da hast du mir Treue gelobt bis in den Tod. Das wirft man nicht so einfach weg!« Vor meinem inneren Auge lief wie ein Film ab,

Weitere Kostenlose Bücher