Entrissen
Traumatik auflösen.«
Der ärztliche Rat war für mich ein letzter, beinahe überlebensnotwendiger Anstoß, um mich nun endlich in einer tiefenpsychologischen Behandlung meinen seelischen Bedrängnissen zu stellen. Ich habe schlicht Angst, eines Tages vor dem Trümmerhaufen eines verpfuschten Lebens zu stehen, obwohl ein Ausweg möglich gewesen wäre. Das bin ich auch meinen beiden inzwischen zwölf und vierzehn Jahre alten Kindern schuldig. Ich will endlich die Kraft zurückgewinnen, um ganz für sie da sein zu können. Nur wenn ich selbst weiß, wo ich herkomme, kann ich ihnen den Weg weisen.
Dennoch kostet es mich erhebliche Überwindung, alle zwei Wochen die Treppe zu dem modern umgestalteten Ärztehaus im Ostberliner Stadtteil Hohenschönhausen hinaufzusteigen. Beklommen harre ich jedes Mal im Wartezimmer meiner Therapiestunde und weiß, während ich geistesabwesend durch die ausgelegten Illustrierten blättere, dass ich gleich wieder losheulen werde. Wie ein Reflex. Ich brauche nur darauf angesprochen zu werden, was mich belastet, und schon fließen die Tränen. Wie ich das hasse. Es ist mir peinlich, schwach zu wirken. Ich meide sonst tiefgründigere Gespräche mit mir unbekannten Menschen, um nicht in diese Verlegenheit zu geraten.
Bei dieser Therapeutin ist es immerhin etwas anders. Bei ihr empfinde ich die beruhigende Gewissheit, mich buchstäblich auch mal ausweinen zu dürfen. Im Austausch mit ihr ist mir deutlich geworden, dass mein Weg zur Erkenntnis unweigerlich durch ein Tal der Tränen führen muss, auch wenn es schwerfällt. In zurückliegenden Gesprächen und Selbsterforschungen habe ich viel über mich und die Bedingungen, unter denen ich aufwuchs, gelernt. Doch auf meiner gedanklichen Zeitreise zurück in die Kindheit bin ich bislang immer nur bis zu meinem Heimdasein gelangt. Die ganz kleine Katrin bekomme ich nie zu fassen. Sie hält sich hartnäckig verborgen, unerreichbar, wie hinter einer Sperre.
»Warum wollen Sie sich denn nicht an sie erinnern?«, fragt die Psychologin behutsam.
»Weil ich dann weinen muss«, antworte ich spontan, »und das will ich nicht.« Dies ist der Moment, an dem die Therapeutin den Bann bricht.
»Was würde die vierjährige Katrin denn dazu sagen?«, fragt sie und spricht von dem kleinen Mädchen in der dritten Person.
Dieser Kunstgriff ist frappierend – und wirkungsvoll. Er erlaubt mir, gewissermaßen einen emotionalen Sicherheitsabstand zu wahren. Plötzlich betrachte ich jenes kleine Wesen, das ich selbst in früher Kindheit einmal war, wie eine neutrale Zeugin. Ihre Antwort liegt für mich auf einmal klar auf der Hand: »Die kleine Katrin fühlt sich so hilflos, verlassen. Sie möchte innerlich aufschreien, kann es aber nicht, weil sie sich zusammenreißen muss.«
Die Therapeutin nutzt die Gelegenheit, um nachzuhaken. »Können Sie das Mädchen sehen?«, fragt sie mich.
Ja, zumindest in Umrissen habe ich sie vor Augen, zum ersten Mal, seit ich zurückdenken kann. »Sie steht in der Ecke«, beschreibe ich, »und dreht mir den Rücken zu.« Doch ich sehe sie, eine erste Verbindung ist hergestellt zwischen der großen und der kleinen Katrin. Im inneren Dialog taucht in Umrissen aus verborgenen Bewusstseinssphären jenes Kindergartenkind wieder auf, das ich so lange Zeit weggeschoben habe. Schemenhaft beginne ich ihre überschaubare Welt aus ihrer Sicht zu betrachten.
Meine Erinnerungsarbeit gleicht der Entdeckung einer an vielen Stellen brüchigen Filmrolle in einem bis dahin unerreichbaren Verlies. Über die innere Leinwand huschen unscharfe Bilder, über die ich jahrzehntelang hinweggesehen habe. Am Ende der Therapie habe ich all jene Ereignisse, die mein Leben aus den Angeln gehoben haben, wieder vor mir, als wären sie erst gestern geschehen: den Überfall der schwarz bemäntelten Männer in unserer Wohnung, die Ohrfeige meiner Mama, das Auto, in dem sie aus meinem Leben entschwand, die Couchdecke, in die ich mein Verlassensein heulte, die Trennung von meinem Bruder.
Es ist der Schmerz, der mich noch immer plagt – das spüre ich – die Wunde, die mich von einem unbeschwerten Dasein fernhält. Am intensivsten wirkt das Gefühl der tiefen inneren Einsamkeit nach, die keine äußere Ablenkung gänzlich vertreiben kann. Im sonnendurchfluteten Therapieraum finde ich zu einem neuen Selbstgefühl. Nicht für alles, was mir geschehen ist, muss ich die Schuld bei mir suchen. Mein Leben ist geprägt von Einflüssen, für die ich gar nicht
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