Entrissen
was ich alles mit meinem unüberlegten Fluchtvorhaben aufs Spiel gesetzt hatte: unsere Partnerschaft, Julias Zukunft und nicht zuletzt meinen Traum von einer intakten Familie.
In den folgenden Tagen bedachte mich mein Mann mit liebevoller Aufmerksamkeit. Nach zwei Wochen jedoch gestaltete sich unser Alltag wieder nach gewohntem Muster. Er ging seinem Armeedienst nach, und ich fühlte mich emotional im Stich gelassen, als weitgehend alleinerziehende Mutter und Hausfrau. Tapfer redete ich mir meine Lage schön: Andere haben es viel schwerer, das hier ist nun mal dein Leben. Mach das Beste daraus!
Die Rückkehr ins Berufsleben nach Ablauf des einjährigen Babyjahres erschien mir wie eine Erlösung. Da sich der Schichtdienst im Ambulatorium nicht mit meinen Mutterpflichten vertrug, konnte ich in einen Beruf wechseln, der ebenfalls dem Ministerium für Gesundheitswesen unterstand und meinem ursprünglichen Berufswunsch entsprach. Ich trat eine Beschäftigung als Erzieherin in der Kinderkrippe an, in der ich auch Julia unterbringen konnte. Meine angeblich so schwachen Stimmbänder waren plötzlich kein Hinderungsgrund mehr. Zu meiner großen Beruhigung hatte ich jetzt mein Töchterchen tagsüber ganz in meiner Nähe und durfte endlich meiner Neigung nachgehen, mich um Kinder zu kümmern. Sie wurden bald zu meinem Lebensinhalt.
Außer Ines kannte ich weiterhin keinen Menschen in der ganzen Stadt näher, dementsprechend klingelten nur selten Besucher an unserer Wohnungstür. Während meine Adoptiveltern die weite Reise nach Binz kein einziges Mal auf sich nahmen, konnten wir Olafs Eltern aus Arnstadt und sogar Nachbarn meiner Eltern aus Gera in unserer bescheidenen Herberge begrüßen. Abends war das heimische Sofa mein Hauptaufenthaltsort, wo ich meistens las oder Musik hörte. Nur alle paar Wochen ging ich mal zum Bahnhof, um dort vom grauen Münzapparat aus meine Adoptiveltern in Gera anzurufen. Ihnen versicherte ich regelmäßig, dass es uns gutgehe und alles in Ordnung sei. Mit meinen Sorgen wollte ich ihnen auf diesem Weg nicht kommen.
Die aufreibende Gestaltung meines eigenen Familienlebens nahm mich zur Genüge in Beschlag. Was vorher war, verblasste in meiner Wahrnehmung. Oma, Mirko, Mama, die Vertrauten aus jenem fernen Dasein, sie hatten sich längst in den Tiefen meines Bewusstseins verloren. Falls doch einmal Phantome aus meiner frühen Kindheit durch meine Gedanken spukten, verscheuchte ich sie rasch wieder.
Berlin-Hohenschönhausen, Herbst 2002
Die Frage liegt eigentlich nahe, und doch öffnet sie mir, vollkommen überraschend, eine lange Zeit verschlossene Tür.
»Was würde denn die kleine Katrin jetzt sagen?«, fragt die Psychotherapeutin mich bei einer unserer Sitzungen, einfühlsam und abwägend formulierend.
Meine etwa fünfzigjährige Gesprächspartnerin wirkt mit dem kurzen braunen Haar und der eher kleinwüchsigen Gestalt nicht gerade wie der Inbegriff einer Mutterfigur. Aber ihr gelingt es wie kaum einem Mitmenschen zuvor, mein notorisches Misstrauen, mit dem ich jedem Fremden erst einmal begegne, zu überwinden. Aus den Worten der Frau, die mir an einem schlichten Resopaltisch gegenübersitzt, spricht Lebensweisheit, aus ihrer Art zuzuhören Vertrauen. Sie nimmt ernst, was ich sage. Sie lässt sich auf mich ein. Auch wenn sich ihre Fragen nicht immer angenehm anfühlen.
Mein Blick wandert an den weißgetünchten Praxiswänden entlang bis zu der breiten Fensterfront, vor der einige mächtige alte Friedhofsbäume ihr herbstliches Blättergewand auffächern. Im Grunde ist mir schon lange bewusst, dass ich mein Leben nur auf diesem Weg in den Griff bekommen kann: Ich muss es schaffen, mich dem kleinen Kind in mir zu stellen, von dem mich eine Barriere aus Angst trennt. Doch so, wie man jede Berührung vermeidet, die Schmerzen hervorrufen könnte, verweigert mein inneres Ich bis jetzt den Vorstoß zu den Ursachen meines Traumas. Wende, Familie, Ehekrise, Arbeitslosigkeit: Vorwände, um mein Lebensthema vor mir herzuschieben, habe ich bislang noch immer zur Genüge gefunden.
Doch inzwischen ist der Leidensdruck einfach zu groß. Seit Jahren fühle ich mich antriebslos, depressiv gestimmt, andauernd den Tränen nahe. In den letzten Monaten habe ich jedoch die Schwelle zur Unerträglichkeit erreicht. Während meiner Erholungskur in diesem Frühjahr hat mir ein Psychologe ins Gewissen geredet. »Ihre gesundheitlichen und psychischen Probleme können Sie nur bewältigen, wenn Sie Ihre tiefsitzende
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