Entrissen
ich lieber nichts wissen. Wer Fluchtgedanken hegte, der bekam Ärger, und alles, was mit Ärger zu tun hatte, wollte ich um jeden Preis meiden.
Olaf schien über die Vorgänge besser im Bilde zu sein. Jedenfalls ließ er sich, als er im Oktober einmal für ein Wochenende nach Hause kam, dazu hinreißen, wütend gegen die abtrünnigen Landsleute zu wettern. »Diese Staatsverräter«, schimpfte er aufgebracht, als müsste er mir seine besondere Linientreue vorführen. Ich wusste gar nicht, auf wen sich dieses abwertende Urteil bezog, das Schimpfwort indes kannte ich. Die blonde Erzieherin im Kinderheim pflegte meine Mama so zu titulieren, und ich hatte diese Abwertung stets wie ein Brandmal auf meiner eigenen Haut gespürt. Unterbewusst musste ich wohl abgespeichert haben, dass jemand, der sich mit dem Staat anlegen wollte, rigorose Konsequenzen zu befürchten hatte, wie es meiner Mutter offenkundig widerfahren war. Den mit dieser Erinnerung verbundenen Schmerz wollte ich nicht an mich heranlassen. Je weniger ich wusste, was um mich herum vor sich ging, desto sicherer fühlte ich mich. Mein Leben genügte mir, so wie es war.
Zu dieser Zeit wurde ich zu allem Überfluss in das Büro der Krippenleiterin beordert, die zugleich die Parteisekretärin der staatlichen Einrichtung war. Sie bot mir erst einen Stuhl an und dann, vollkommen überraschend, ihre Position.
»Ich werde mich beruflich verändern und wahrscheinlich von hier wegziehen. Hast du Interesse daran, meinen Posten in der Partei zu übernehmen?«, fragte sie mich.
Ich war froh, dass ich saß, und vollkommen verdattert, so unerwartet aus meinem Karteileichendasein gerissen zu werden. Hatte ich doch immer noch im Hinterkopf, dass die SED es nicht gerne sah, wenn eine Genossin vor dem angebotenen Ehrenamt zurückscheute. Aber hier auf Rügen, unter all den Soldaten mit ihrem seltsamen Verhalten, war mir dieser Parteibetrieb erst recht nicht geheuer. Konnte denn niemand akzeptieren, dass ich am liebsten meine Ruhe haben wollte? Ich versuchte mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen und entgegnete in ruhigem Tonfall: »Bei meinem Beitritt habe ich doch schon erklärt, dass ich über den Mitgliedsbeitrag hinaus keine weiteren Aktivitäten übernehmen möchte. Und das will ich eigentlich auch so beibehalten. Als berufstätiger Mutter fehlt mir einfach die Zeit.«
Sie nickte, beinahe beruhigt, wie nach der Erledigung einer lästigen Pflicht. Meine Antwort schien ihr auszureichen.
Konsequenzen für meinen Berufsalltag blieben zum Glück aus. Auch in der Partei machten sich offenbar Auflösungserscheinungen bemerkbar.
Trotz oder vielleicht auch wegen meiner Rückzugsneigung war ich froh, Olafs Statthalter nun in meiner Nähe zu wissen. Jedes Mal, wenn der junge Offizier mir in seinem Militärlastwagen auf der Straße entgegenkam, hieß er den Fahrer mit einem knappen Befehl anhalten, sprang herunter und umarmte mich ohne Scheu. Das irritierte mich, schmeichelte aber zugleich meinem Ego. Half er mir anfangs nur, wenn Not am Mann war, etwa um Möbel zu verrücken oder Kohlen aus dem Keller hochzuschleppen, so wurde er bald zum allabendlichen Gast, der meine Einsamkeit durchbrach.
Er schien sich wohlzufühlen in meinem behaglichen Zuhause, das er in seiner Kasernenstube vermisste, und er schien Gefallen an mir zu finden. Ich genoss es, ausgiebig mit ihm zu plaudern, gerade weil er eine reizvolle Abwechslung zu meinem einsilbigen Gatten bot. Was mir bis dahin völlig fremd war: ein Mann, der sich im Haushalt nützlich machte. Die spürbare Freude meines Besuchers an unseren Begegnungen, deren Regelmäßigkeit und seine Verlässlichkeit beeindruckten mich. Ich verbot mir jedoch jegliche vertraulichen Gefühle, schließlich hatte ich meinem Mann die Treue versprochen, und auch mein Kavalier vermied jede unziemliche Annäherung.
Trotzdem bekam Olaf auf seinem Lehrgang umgehend Wind von den häufigen Hausbesuchen seines Untergebenen, der sich zu diesem Zweck stets ordnungsgemäß in der Kaserne abmeldete. So hatte mein Mann sich die Hilfsbereitschaft seines NVA -Kameraden offenbar nicht vorgestellt. Prompt machte er mir eine hochdramatische Eifersuchtsszene, als er dem jungen Mann einmal bei seiner Rückkehr in unserer Wohnung begegnete. Er fand keine andere Erklärung für dessen Anwesenheit, als dass ich ihn hinter seinem Rücken betrog. Er wütete, schmollte und ätzte, und ich verteidigte mich standhaft.
»Da war nie was! Du hast ihn doch selbst angeschleppt,
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