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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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weil du ja nie da bist. Weil nämlich immer deine Armee Vorrang hat!«
    Die Gegenattacke zeigte Wirkung, und mein Mann beruhigte sich wieder.
    Doch bei seiner nächsten Heimkehr schlich er sich verdächtig leise zur Wohnungstür herein. Erwartete er etwa, mich mit unserem Hausgast in flagranti zu ertappen? Dazu gab es indes keinerlei Anlass.
    Ich war ungehalten über das offenkundige Misstrauen meines Gatten und fragte ihn, nun meinerseits von Misstrauen angestiftet: »Wieso bist du denn so zeitig von deinem Lehrgang zurück? Wisst ihr jetzt schon alles über Marxismus-Leninismus?«
    Seine lapidar hingeworfene Antwort war eine echte Bombe, deren Sprengkraft ich erst mit großer Verzögerung erfasste: »Der Lehrgang hat sich erledigt. Die Mauer ist auf.«
    Es war der 10 . November 1989 .
    Alles hatte ich mir vorstellen können, nur das nicht. Wenn etwas in meiner Einbildungskraft festgefügt, undurchdringlich und beständig war, dann die innerdeutsche Grenze. Und jetzt sollte diese Sperre durchlässig sein? Nein, diese Mitteilung kam mir vollkommen unglaubwürdig vor. Sicher war es nur eine absurde Ausrede, mit der Olaf seinen Überraschungsbesuch kaschieren wollte.
    Statt einer Erklärung schaltete er das Fernsehgerät ein. Ohne wirklich zu verstehen, was da vor sich ging, sah ich ungläubig all die hupenden Trabbis, die kein Schlagbaum mehr hielt, die feiernden Menschen auf den Straßen Berlins, die sich mit schulterklopfenden Westbewohnern verbrüderten. Verwaschene Jeansjacken aus volkseigener Fertigung vor der Kulisse der kapitalistischen Glitzerwelt, Tragetüten mit Werbeaufdrucken in Arbeiter- und Bauernhand, überschäumende Sektflaschen vor den Pforten unserer Mangelwirtschaft: Das alles schien mir überhaupt nicht zusammenzupassen. Ich starrte fassungslos auf die selbst noch immer fassungslosen Gesichter im Fernsehen am Tag eins nach der Maueröffnung. Mir kam dieses Geschehen in jenem Moment vor wie eine Direktübertragung vom Mars. Da Julia krank war, hatte ich schon die ganze Woche zu Hause verbracht und war somit von der Außenwelt abgeschnitten. Die historischen Vorgänge erreichten mich daher vollkommen unvorbereitet.
    Ich jubelte nicht und holte auch keinen Rotkäppchen-Sekt aus dem Schrank, ich schaute nur sprach- und verständnislos meinen Mann an. Das Ganze kann nur ein großangelegter Schwindel sein, dachte ich in den Kategorien des jahrelang einübten Denkens. Ich hatte sogar spontan Mitleid mit den Menschenmassen, die gerade unbedarft ihre Grenzen überschritten, denn sie würden für ihre Arglosigkeit empfindlich bestraft werden. Man würde sie, wenn sie überhaupt wieder zurückkehren durften, zur Rechenschaft ziehen und ins Gefängnis stecken, davon war ich überzeugt.
    Mir kamen die warnenden Worte meiner Lehrerin während unseres Buchenwald-Besuchs wieder in den Sinn, dass im Westen die früheren Nazis ihr Unwesen trieben. Meine Gedanken überschlugen sich. Würden die jetzt einen Krieg gegen uns anzetteln? War der Friede in Gefahr? Seit je gehörte der »antifaschistische Schutzwall« für mich zum Bestand unseres Staates, wie Zinnen und Zugbrücken zu einer Ritterburg. Ohne diesen Schutz fühlte ich mich bedroht.
    Wie jede unberechenbare Wendung überforderte mich auch die Maueröffnung. Eine diffuse Angst schnürte mir die Kehle zu und raubte mir nachts den Schlaf. Als ich dann doch wegdämmerte, hörte ich im Traum nach langer Zeit wieder meine Mama, wie sie damals rief: »Wenn sich hier nichts ändert, dann hau ich auch ab!«
    Mit der Vorstellung einer offenen Grenze verknüpfte sich meine tiefsitzende Verlassensangst. Dass mit der Mauer zugleich die DDR hinfällig sein konnte, dieser kühne Schluss wäre mir damals allerdings nicht in den Sinn gekommen.

[home]
    28 .
    N ach diesem historischen Wochenende unternahmen die Hüter unseres Staates keine erkennbaren Anstalten, die Grenze wieder zu verriegeln. Im Gegenteil: Der Strom der Neugierigen, Nostalgiker, Einkaufsausflügler und Kontaktsuchenden an den Grenzübergängen schwoll täglich an. Scheu und Argwohn schwanden mit jedem Tag. Schließlich hatten die Erfahrungen der ersten Pioniere gezeigt, dass die Grenzgänger am Ende des Tages unbehelligt zurückkehren konnten.
    Auch auf der leicht abgelegenen Halbinsel Rügen wurde der Sog Richtung Westen bald immer stärker spürbar. Selbst für mich gab es irgendwann kein Halten mehr, als mich die Mutter eines Mädchens aus meiner Kinderkrippe zur Fahrt ins frühere Feindesland einlud.

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