Entscheide dich, sagt die Liebe
traurig sei, fragte er sie in ihrer Muttersprache. Die Worte waren aus seinem Mund gepurzelt, ehe er darüber nachdenken konnte.
Sie schwieg. Die Röte schien aus ihrem Gesicht zu verdunsten, das jetzt blasser wirkte als zuvor, die Haut beinahe durchsichtig. Über der Nasenwurzel trat eine blaue Ader in V-Form hervor. Clara schüttelte den Kopf, als wollte sie die Frage wie Wassertropfen von sich abperlen lassen. Dann antwortete sie doch. Erzählte vom Tod ihres Vaters. Am Tag ihres Konzerts in der Fenice war er gestorben.
Deshalb war sie Daniele so abweisend erschienen. Und er hatte sie für eine zickige, unnahbare Diva gehalten! Das Beben ihrer Nasenflügel und das Pulsieren der blauen Ader rührten ihn über die Maßen. Die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen verblüffte ihn, und die Wärme ihrer Handflächen, die auf seinem Rücken lagen, ging ihm durch und durch. Er wollte mehr über sie wissen. Aber entweder sie erzählte nicht gern von sich, oder sie war selbst neugierig, jedenfalls drehte sie den Spieß um und fragte ihn, woher er so gut Deutsch könne.
»Mein Onkel betreibt im Schwarzwald eine Senfmanufaktur. Als Kind habe ich Jahr für Jahr die Sommerferien dort verbracht. Da meine Cousinen sich geweigert haben, mit mir Italienisch zu sprechen, ist mein Deutsch immer besser geworden.«
Sie wollte mehr hören, er erzählte ihr von Onkel Gino und seiner Familie. Vom alten Esel, dem man die Karotten reiben musste, weil seine Zähne schon so locker saßen. Von den roten Würsten, die beim Grillen aufplatzten und zu denen am besten Heidelbeersenf passte. Er wusste nicht, warum so viele Worte aus seinem Mund quollen, obwohl er sonst eher schweigsam war. Vermutlich lag es an ihrer Art, den Kopf schief zu legen und ihm zuzuhören. Ehe er sich versah, hatte er von seiner Leidenschaft, den Marionetten, und von der Commedia dell’Arte erzählt. Von der verführerischen und lebenslustigen Colombine, vom reichen Pantalone, der sich ständig in die Angelegenheiten anderer einmischte, vom eingebildeten Dottore mit seinen leeren Worthülsen und vom frechen Arlecchino, seiner Lieblingsfigur, die gut und böse, tragisch und komisch zugleich war. Auch von dem verrückten Tanz erzählte er Clara, zu dem ihre Musik den Arlecchino inspiriert hatte. Die schmalen Lippen der Pianistin verzogen sich zu einem winzigen Lächeln und über ihr Gesicht ging ein Leuchten, das etwas mit Danieles Magen anstellte. Es wurde warm dort, als hätte er ein, zwei Gläser Whisky hinuntergekippt. Auf ex.
Und plötzlich sah er es. Ihr Strahlen. Ihre Schönheit. Vielleicht hatte Paolo mit seinem Geschwafel vom Engel doch recht, denn sie wirkte tatsächlich wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Er spürte, wie sich dieser Anblick in seine Seele einbrannte, er konnte nichts dagegen tun. Sein Herz stolperte, eine kochend heiße Flüssigkeit rann seinen Rücken hinunter. Oder war sie eiskalt? Im Aschehäuflein seiner Gefühle, die er nach Sofias Weggang zur sicheren Verwahrung in eine Urne gesperrt hatte, rührte sich etwas. Ein neugeborenes Wesen, blind, mit nackten Flügeln, die es ungeschickt spreizte.
Daniele wollte das nicht. Bevor das Phönixbaby sich aus der Asche erheben konnte, scheuchte er es in die Urne zurück und stülpte den Deckel darüber. Er riss sich los.
Claras Pupillen weiteten sich vor Schreck, als er sie wegschubste. Hinein in Paolos Arme, der die Gelegenheit beim Schopf ergriff und sich von der Amerikanerin befreite.
Daniele stammelte eine Entschuldigung, die niemand hören konnte, nicht einmal er selbst, denn seine Stimme gab den Geist auf. Aus dem Augenwinkel sah er Paolos Augen aufblitzen, freudig, dankbar, überschäumend. Sie ist sein Mädchen. Wenn sie überhaupt von dieser Welt ist, ist sie sein Mädchen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ Daniele den Salon, verließ die Ca’ Minotti, überquerte die Ponte dell’Accadémia, die ihn vom Nobelviertel San Marco in den südlichen Stadtteil Dorsoduro brachte. An der Fondamenta delle Zattere nahm er das letzte traghetto zur Insel Sacca Fisola, der billigsten Wohngegend Venedigs, eingeklemmt zwischen der Giudecca und der Sacca San Biagio mit ihrer Müllverbrennungsanlage.
Er schloss seine Einzimmerwohnung im obersten Stock der Mietskaserne auf und zog sich aus. Bemerkte, dass er vergessen hatte, Paolos Seidenanzug gegen seine abgetragenen Klamotten zu tauschen. Legte das gute Stück sorgfältig zusammen und sank auf sein Schlafsofa, das ihn mit vorwurfsvollem
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