Entscheide dich, sagt die Liebe
Seufzerbrücke gelangten sie in den Gefängnistrakt.
Clara atmete auf, als Amelie genug gesehen hatte und sie den düsteren Schauplatz verließen.
Durch schmale Gassen und entlang malerischer Kanäle schlugen sie sich zur Rialtobrücke durch. Hungrig von der Flut der Eindrücke suchten sie sich eine kleine Trattoria in der Nähe des Rialto-Marktes. Sie stärkten sich mit Pasta, tranken Weißwein dazu und danach einen Espresso.
Amelie löffelte viel zu viel Zucker in ihren Kaffee, schien es aber nicht zu merken. Ein grauer Schleier hatte sich über ihr Gesicht gelegt und ihr Lächeln wirkte auf einmal eingefroren. Sie nahm Claras Hand. »Venedig ist eine wunderschöne Stadt, die ich mir schon lange ansehen wollte. Aber gekommen bin ich aus einem anderen Grund. Ich muss dir etwas sagen, Kind.« Sie kramte in ihrer Handtasche und legte einen dicken braunen Umschlag auf den Tisch. Klopfte ein paarmal mit ihrer Hand darauf. »Es gibt da etwas, das du wissen solltest.«
Claras Herz schlug schneller. »Hat es mit Paps zu tun?« Vielleicht würde sie mehr über den Klimt erfahren.
»Mit deiner Mutter.«
»Ich habe keine Mutter«, sagte Clara brüsk. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
»Willst du sie nicht kennenlernen?« Amelie schob den Umschlag auf Claras Seite des Tisches.
»Wenn du die Frau meinst, die mich geboren hat und wenige Wochen später mit einem ihrer Liebhaber durchgebrannt ist, dann nein. Ich interessiere mich nicht für sie.« Clara schob das braune Päckchen zurück.
Wie oft hatte sie sich nach einer Mutter gesehnt! Als sie mit dem Fahrrad gestürzt war und sich die Wade so tief aufgeschnitten hatte, dass die Wunde genäht werden musste. Als sie von ihren Mitschülern gemobbt wurde, weil sie nicht dieselben Fernsehsendungen kannte und nicht in dieselben Filmschauspieler verliebt war. Nach jedem Streit mit ihrem Vater und als sie zum ersten Mal ihre Tage bekam. Mit Paps konnte sie zwar über alles reden, aber mit sogenanntem »Gefühlskram« oder mit »Frauensachen« wollte er nichts zu tun haben. Und beim Anblick von Tränen – egal, ob aus Kummer oder Freude vergossen – hatte er jedes Mal die Flucht ergriffen.
»Willst du nicht wenigstens einen Blick darauf werfen?«
Clara verneinte. »Ich habe gelernt, ohne Mutter zurechtzukommen. Ich hatte ja Paps. Und dich.«
Amelie lächelte. »Auch ein noch so guter Vater ist kein Mutterersatz. Und eine Amme und Haushälterin erst recht nicht. Glaubst du, ich weiß das nicht? Auch wenn du mir ans Herz gewachsen bist wie ein eigenes Kind. Deine Mutter hat …«
»… sich zwanzig Jahre lang nicht um mich gekümmert. Nicht das kleinste Lebenszeichen von sich gegeben. Ich weiß nicht, wie sie aussieht, ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt.« Und es war ihr auch egal! Für Clara existierte sie nicht.
»Und ob sie lebt. Du siehst ihr übrigens sehr ähnlich. Dass sie nie ein Lebenszeichen von sich gegeben hat, ist unwahr. Eine Lüge deines Vaters.«
»Waaaas?«
»Deine Mutter hat jahrelang versucht, dich zu kontaktieren. Sie hat dir unzählige Briefe geschrieben. Briefe, die dich nie erreicht haben, weil dein Vater sie abgefangen und vernichtet hat.«
»Das kann nicht sein!« Clara richtete sich so abrupt auf, dass sie mit dem Bein gegen den ohnehin wackeligen Tisch stieß und beinahe ihre Tasse zum Absturz gebracht hätte. »Das hätte Paps nie gemacht!«
»Ich fürchte doch. In ihrer Verzweiflung hat sich deine Mutter an mich gewandt. Sie hat mich gebeten, dir die Briefe zukommen zu lassen.« Amelie tippte auf den braunen Umschlag und seufzte. »Ich war in einem schrecklichen Zwiespalt. Was mir deine Mutter geschrieben hat, hat mich zutiefst berührt und mir das Bild einer höchst unglücklichen Frau vermittelt. Ich wollte ihr helfen. Aber ich war feige.« Amelie stürzte den Espresso hinunter. »Ich habe nicht gewagt, dir die Briefe zu geben. Bestimmt wäre es herausgekommen, und dann hätte dein Vater mich hinausgeworfen.« Sie löffelte den Zucker auf, der sich nicht aufgelöst hatte. »Also bin ich einen Kompromiss eingegangen. Ich habe deiner Mutter hin und wieder ein Foto von dir geschickt. Einen Milchzahn. Eine Haarsträhne. Eine Konzertkritik von deinem ersten Konzert. Ein- oder zweimal jährlich habe ich ihr geschrieben und sie über deine Entwicklung auf dem Laufenden gehalten. Ihre Briefe an dich habe ich aufbewahrt. Als dein Vater starb, wollte ich sie dir endlich geben. Aber du warst so gefangen in
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