Entscheide dich, sagt die Liebe
deiner Trauer, dass ich es nicht übers Herz gebracht habe. Ich wollte den richtigen Zeitpunkt abwarten.« Sie suchte Claras Blick. »Und der ist jetzt, glaube ich.«
Clara presste ihre Hände gegen die Schläfen. Wenn Amelie ihr eine Bratpfanne über den Schädel gezogen hätte, hätte sie sich nicht schlechter fühlen können als nach diesem Bekenntnis. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Vermutlich gab es keine Worte für so eine Situation.
»Nimm die Briefe, Clara. Natürlich kannst du damit machen, was du willst. Du kannst sie zerreißen oder verbrennen und die Asche in den Canal Grande werfen. Ich bitte dich aber um eines: Lies sie zuerst.«
»Nein«, bockte Clara, »ich will nicht.«
»Wenn dir irgendetwas an mir liegt, Kind, dann tu es für mich. Damit ich ruhig schlafen kann und mir nicht bis an mein Lebensende vorwerfen muss, ich hätte mitgemacht.«
»Wobei mitgemacht?«
»Deine Mutter zu verteufeln, wie dein Vater es getan hat. Dich von ihr fernzuhalten und dadurch ihr Leben zu zerstören.«
Zorn stieg in Clara auf. »Was fällt dir ein?« Paps hatte ihre Mutter gehasst, ja, aber war das ein Wunder? »Er hatte seine Gründe! Wie kannst du so schlecht über ihn reden?«
»Nach der Beerdigung hast du mich immer wieder gefragt, was ich von deinem Vater halte. Du wolltest meine ehrliche Meinung hören.«
Clara blickte erschrocken auf. Sie fühlte sich ertappt. Amelies Meinung über Paps war ihr zwar immer noch wichtig, aber scheinbar war sie nicht auf Kritik gefasst und konnte sie nicht ertragen. »Versteh doch, Amelie. Ich kann diese Briefe nicht lesen. Damit würde ich Paps in den Rücken fallen!«
»Es ist schön, dass du ihn über seinen Tod hinaus verehrst. Er war ein großer Mann, ein fantastischer Dirigent. Ein liebender Vater. Aber er hatte auch seine Schattenseiten. Dass er dich deiner Mutter vorenthalten hat, ist eine davon.«
Clara starrte Amelie entsetzt an. Ihr fehlten die Worte.
»Niemand hat das Recht, sich als Maß aller Dinge aufzuspielen. Auch nicht ein weltberühmter Dirigent. Und niemand sollte einen anderen Menschen verurteilen, ohne seinen Standpunkt zu kennen.«
Clara gab ihren Widerstand auf. »Also gut.« Um des lieben Friedens willen nahm sie den braunen Umschlag an sich und steckte ihn in ihre Umhängetasche. Sie versprach, die Briefe zu lesen. Irgendwann.
Der restliche Tag war ihr jedoch vergällt. Lustlos fuhr sie mit Amelie nach Murano. Die freute sich wie eine Schneekönigin über den Schnickschnack aus buntem Glas. In Claras Kopf aber spukten ständig Wortfetzen ihres Gesprächs herum, und der braune Umschlag in ihrer Tasche wog schwerer als ein Zementsack.
Es dämmerte bereits, als Clara Amelie am Bahnhof absetzte. Sie umarmten sich zum Abschied.
»Pass auf dich auf, mein Kind«, sagte Amelie und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Und wenn dieser Paolo der Richtige ist, dann halte ihn gut fest!«
Clara lächelte müde. »Und woher soll ich das wissen?«
»Du kannst es riechen.« Amelie deutete auf ihre Nasenspitze und senkte die Stimme. »Schnuppere an seinem Haar, am besten in der Schläfengegend. Sauge seinen Duft ein. Wenn du das Gefühl hast, du bist zu Hause angekommen, dann ist er für dich gemacht.«
Als Clara später am Klavier saß und ihre Finger mit einer Etüde von Liszt aufwärmte, musste sie immer wieder an das braune Päckchen in ihrer Umhängetasche denken. Sie hatte die Tasche in die hinterste Ecke ihres Zimmers gepfeffert und sie nicht angerührt.
Vier Tage lang schaffte sie es, die Briefe zu ignorieren, obwohl sie sich andauernd in ihren Kopf drängten. In dieser Zeit konsultierte sie Professor Vannini, den Experten, den Herr Rossi empfohlen hatte. Nach gründlicher Prüfung bekam sie ein schriftliches Gutachten, das die Echtheit des Landschaftsbilds von Klimt feststellte. Merkwürdigerweise konnte sie sich nicht darüber freuen. Dafür übte sie wie eine Besessene. Acht bis neun Stunden täglich verbrachte sie hinter dem Klavier. Wenn ihre Konzentration nachließ oder die Gedanken wieder einmal zu dem braunen Päckchen abglitten, rief sie sich das Gesicht ihres Vaters ins Gedächtnis.
Seine Stimme vertrieb die von Amelie, schon weil sie lauter und gewichtiger war. »Deine Mutter war ein Teufelsbraten, aber du hast keinerlei Ähnlichkeit mit ihr. Du bist zu hundert Prozent meine Tochter«, hatte er einmal gesagt. Und es musste stimmen. Von wem sonst hätte sie ihr Talent geerbt? Bestärkt übte sie weiter.
Wenn ihre
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