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Entscheide dich, sagt die Liebe

Entscheide dich, sagt die Liebe

Titel: Entscheide dich, sagt die Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siri Goldberg
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Arme schwer wurden, dachte sie wieder an Paps. »Disziplin, Disziplin! Die ist zehnmal mehr wert als Talent!« war seine Devise gewesen. Und: »Mit der Musik ist es wie mit dem Spitzensport. Nur die, die bereit sind, sich permanent zu quälen, werden Preise gewinnen.«
    Clara fragte sich nicht mehr, was sie wollte. Seit Kindesbeinen hatte ihr Vater sie darauf getrimmt, eine weltberühmte Pianistin zu werden. Natürlich würde sie daran weiterarbeiten.
    Zum Glück hatte Paolo Verständnis dafür, dass die Musik bei ihr an erster Stelle stand. Dafür war Clara ihm sehr dankbar. Während sie übte, saß er in seinem Arbeitszimmer am Computer, telefonierte und kümmerte sich um seine Geschäfte. Abends aßen sie zusammen, danach schliefen sie zusammen. Paolo war ein sanfter Liebhaber, der sich furchtbar viel Mühe gab. Clara genoss seine Zärtlichkeiten. Endlich kam auch das vernachlässigte Frettchen in ihrem Bauch auf seine Kosten. Es erhob seine Stimme seltener und weniger gierig. Clara begriff, dass Sex Spaß machte, obwohl ihre Vorstellungen davon falsch gewesen waren. Sie hatte immer auf ein Peng, Plopp oder Krawumm gewartet. Auf das Zünden eines Feuerwerks, eine Explosion von Farben, Lichtern und Gefühlen, einen Rausch aller Sinne. Dabei handelte es sich lediglich um ein Spiel. Vergnüglich, befriedigend, harmlos.
    Als sie eines Morgens aufwachte und Paolo beim Schlafen beobachtete, fielen ihr Amelies Abschiedsworte ein. Jetzt wäre die Gelegenheit, ihre These zu prüfen, dachte sie, und beugte sich über ihn. Zwei Fingerbreit oberhalb der Schläfe steckte sie ihre Nase in sein Haar. Dann sog sie seinen Duft ein. Er roch nach den herben Kräutern eines teuren Haarshampoos und nach einem noch teureren Rasierwasser. Äußerst angenehme Aromen. Männlich, dezent, edel. Aber was hatte das mit dem Gefühl zu tun, zu Hause angekommen zu sein? Sie schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn! Eine von Amelies esoterischen Spinnereien. Als ob man sich Heimatgefühle erschnuppern könnte! Sie ärgerte sich über sich selbst. Sie musste sich ihre naiven Vorstellungen endlich abschminken. Was erwartete sie eigentlich? Dass der Märchenprinz sie auf den Rücken seines Pferdes hievte und mit ihr ins Paradies ritt, wo er sie küsste und damit einen Sternschnuppenregen auslöste?
    Schluss mit den Kleinmädchenfantasien! Es war höchste Zeit, im richtigen Leben anzukommen.
    Als Paolo im nächsten Augenblick erwachte, verwundert über ihr Geschnüffel, nahm er sie in die Arme. Er küsste sie. Sie liebten sich, während die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch einen Spalt im Vorhang fanden und goldene Kringel auf das dunkelgrüne Seidenmeer von Paolos Bett malten. Kurz bevor das pelzige Tier in Claras Bauch seinen Lustschrei ausstieß, hielt Paolo in seinen Bewegungen inne.
    »Willst du meine Frau werden?«, fragte er.
    »Ja«, sagte Clara, und es klang rau, als hätte das Frettchen mitgebellt.
     
    Nach dem Frühstück, während Paolo durchs Haus wuselte, um die ganze Welt an seiner Freude teilhaben zu lassen, zog Clara sich zurück. Jetzt konnte sie nicht mehr aufschieben, was seit Tagen ihre Gedanken beherrschte. Sie holte den braunen Umschlag aus ihrer Umhängetasche. Zwanzig Briefe ihrer Mutter waren darin. Sie pickte wahllos einen heraus. Er schien in ihrer Handfläche zu brennen, als sie damit im Zimmer auf und ab ging. Nach der siebten Runde öffnete sie ihn und begann zu lesen.
     
    Liebe Clara!
    Ist es die Möglichkeit? Mein Mädchen feiert heute seinen dreizehnten Geburtstag! Bald bist du eine junge Frau, bald wirst du dich zum ersten Mal verlieben, wirst deine Flügel ausbreiten und auf und davon fliegen. Dabei habe ich dich doch erst gestern noch im Arm gehalten und die Winzigkeit deiner Zehen bewundert. So kommt es mir zumindest vor. Und gleichzeitig erscheinen mir diese dreizehn Jahre wie eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit des Wartens, eine Wüste des Schweigens, ein Meer der Leere.
    Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf. Horche täglich auf die Schritte des Briefträgers, das Klappern der Postfachdeckel. Stürze hinaus. Nein, heute kein Lebenszeichen von dir. Aber morgen vielleicht?
    Letzten Winter hat Amelie, die gute Seele, mir ein Foto von dir geschickt. Du sitzt am Flügel, hochkonzentriert, deine Rechte schwebt über den Tasten. Du hast das blaue Konzertkleid an.
    Wie hübsch du geworden bist! Wie ernsthaft du wirkst, wenn du Musik machst!
    Ich habe das Bild rahmen lassen. Jetzt steht es auf meinem Nachttisch.

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