Entscheide dich, sagt die Liebe
Wenn der Wecker läutet und ich meine Augen öffne, zaubert dein Anblick ein Lächeln auf meine Lippen, noch bevor ich richtig wach bin.
Und dann denke ich, dass es vielleicht gar nicht so wichtig ist, ob du diesen Brief morgen lesen wirst oder erst nach meinem Tod oder niemals. Ob du dich darüber freuen oder über das sentimentale Geschwafel deiner Mutter den Kopf schütteln wirst. Wichtig ist doch nur, dass es dir gut geht.
In Gedanken bin ich bei dir und drücke dich so fest, dass du es bestimmt spüren kannst.
Alles Gute zum Geburtstag, Clara! Bleib gesund, sei fröhlich und übe nicht zu viel! Und lass dir den Schokokuchen mit den Mandelsplittern schmecken, den du so gern hast und den Amelie ganz sicher für den heutigen Tag gebacken hat.
Alles Liebe, deine Mama
Clara las, ohne abzusetzen, in einem Zug. Las den einen Brief und alle anderen. Las alle zweimal.
Ihre Mutter erklärte nichts in diesen Briefen, die lauter neue Fragen aufwarfen und keine einzige beantworteten. Und doch gingen sie Clara nahe, sie wusste nicht, warum. Vielleicht weil sie ihrer Mutter, von der sie bisher gar keine Vorstellung gehabt hatte, ein Gesicht verliehen. Sie machten sie zu einem Menschen aus Fleisch und Blut, einem fühlenden Wesen, das nicht länger totgeschwiegen werden konnte.
Den ganzen restlichen Tag haderte Clara mit sich selbst. Am Abend fasste sie einen Entschluss: Mochte Paps sich auch im Grab umdrehen, sie musste ihre Mutter mit eigenen Augen sehen, musste mit ihr sprechen. Sonst würde sie nie mehr ruhig schlafen können.
D aniele betrachtete das Stück Kirschkuchen auf seinem Teller, ohne es wahrzunehmen. Seine Gedanken weilten wieder einmal bei den lagunengrünen Augen. Als deren Besitzerin sie nach seiner unverschämten Anschuldigung auf ihn gerichtet hatte, waren sie allerdings beinahe schwarz gewesen. Was für eine unnötige Auseinandersetzung! Er konnte nicht mehr nachvollziehen, was in ihn gefahren war. Mit Paolo hatte er sich zum Glück schon ausgesöhnt. Clara war ihm seit dem Streit nicht mehr begegnet, und er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie anzurufen und sich zu entschuldigen. Warum eigentlich nicht?
»Ist dir nicht gut?« Mutters Augen musterten ihn besorgt.
»Kann ich dein Kuchenstück haben, wenn du es nicht magst?«, fragte sein Bruder, der sein eigenes Stück mit der Geschwindigkeit eines Staubsaugers inhaliert hatte.
»Enzo Emilio!« Mutters Augen waren vorwurfsvoll auf den Jüngsten gerichtet. Die Angewohnheit, ihre Kinder bei beiden Vornamen zu rufen, wenn sie sie schimpfte, hatte sie über all die Jahre beibehalten. »Untersteh dich und iss Daniele die Nachspeise weg, du Vielfraß!«
»Ich muss doch noch wachsen«, bettelte Enzo, der mit seinen zwölf Jahren nur noch fünf Zentimeter kleiner war als Daniele. Bestimmt würde er einmal alle Rossis um einen Kopf überragen.
»Von zu viel Kirschkuchen schrumpft man«, sagte Giulia.
»Dann weiß ich, wieso du so eine Zwergin bist!«, maulte Enzo seine Schwester an.
Giulia antwortete nicht. Sie spuckte einen Kirschkern mitten in Enzos Mondgesicht und traf ihn knapp unter dem Auge.
»Giulia Giorgina!«, fauchte Mama Rossi. »Was fällt dir ein! Dafür wirst du heute den Tisch abräumen und das Geschirr abwaschen, und zwar ganz allein.«
»Das ist gemein! Enzo ist an der Reihe. Immer darf er sich drücken.«
»Man spuckt seinen Bruder nicht an. Außerdem hätte das ins Auge gehen können!«
Enzo streckte Giulia die Zunge heraus. »Geschirrspülen ist sowieso Weiberkram«, sagte er und unterstrich seine These mit einer lässigen Handbewegung.
»Was hör ich da? Weiberkram?« Mama Rossis Gesicht leuchtete im schönsten Tomatenrot. »Na warte, Enzo Emilio. Dafür wirst du drei Wochen hintereinander Geschirr spülen. Damit du lernst, dass in der Familie Rossi auch Männer ihren Beitrag leisten müssen.«
Giulia unterdrückte einen Jubelschrei.
»Trotzdem. Heute bist du dran, meine Kleine.« Mutter strich ihr eine Strähne hinters Ohr und wandte sich dem Herd zu, wo mehrere Kilo Erdbeeren in einem riesigen Topf vor sich hin köchelten, um als Marmelade zu enden.
Daniele schüttelte den Kopf über die Grimassen, die seine jüngeren Geschwister ihrer Mutter schnitten, kaum hatte diese ihnen den Rücken zugedreht. Er halbierte sein Kuchenstück und verteilte die Hälften auf die Teller von Enzo und Giulia. »Hier habt ihr. Ich bin schon satt.« Dann stand er auf und stellte seinen Teller in die Spüle.
»Du musst das nicht
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