Entscheidung der Herzen (German Edition)
verhangen, dass nicht der kleinste Strahl Mondlicht durch die dichte Wolkendecke drang. Es herrschte tiefschwarze Nacht.
Selbst die Hunde hatten sich in den Ställen ein warmes, trockenes Plätzchen gesucht und dachten gar nicht daran, ihr Zuhause zu schützen.
Die Wege waren so aufgeweicht, dass Cassian an manchen Stellen fast bis zum Knöchel im Morast einsank. Die Luft war kühl und klar. Cassian atmete tief aus und sah, dass sich vor seinem Mund weiβe Wölkchen bildeten. Der Sommer war endgültig vorbei, der Herbst hatte in Mittelengland Einzug gehalten, stand schon auf der Leiter und malte die Blätter der Bäume bunt an.
Doch Cassian hatte keine Zeit, sich über die Schönheit der nächtlichen Herbstlandschaft zu freuen. Er hatte sich dem Anwesen, auf dem er geboren worden war und einen groβen Teil seines Lebens verbracht hatte, von hinten genähert. Jetzt hatte er die Mauer, die das Kräutergärtchen des Schlosses schützte, erreicht.
Die Steine der mannshohen Mauer waren vom Regen glatt und schmierig. Cassian griff mit beiden Händen nach dem oberen Mauerrand und zog sich so hoch, dass er die Arme daraufstützen konnte. Dann schwang er zuerst das linke, dann das rechte Bein darüber und sprang in das Gärtchen. Er zertrat dabei das Rosmarinbeet, das Anna so hingebungsvoll pflegte.
»Entschuldige, Anna«, murmelte er. »Ich werde den Schaden heilen, sobald ich Zeit dazu habe.«
Er kramte in seinen Taschen, während er in die Hocke ging. Keine Minute zu früh, denn schon schössen vier groβe, zottelige Hunde mit gebleckten Zähnen laut bellend heran.
»Hey, Sammy, Tilly, Watta und Pinky, ich bin es. Erkennt ihr mich nicht?«
Beim Klang der Stimme beruhigten sich die Tiere, die die Gröβe von Kälbern hatten, augenblicklich. Nur Watta, der kleinste der Dobermänner, knurrte noch immer bedrohlich.
Cassian hielt den Hunden ein paar Wurststücke hin, die sie ihm gierig aus der Hand schnappen, dann tätschelte er die Köpfe der vier und schickte sie zurück.
Aufmerksam lauschte er in die Stille. Hatte das Hundegebell jemanden geweckt? Nein, alles blieb ruhig. Cassian atmete auf. Hier drauβen schlugen die Hunde oft an. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihr Gekläff die Stille der Nacht durchschnitt. Trotzdem blieb Cassian wachsam. Die Hunde, die die Manors und Schlösser bewachten, waren abgerichtet. Sie schützten den Besitz vor fremden Eindringlingen. Er kannte die Hunde, und deshalb hatten sie sich auf der Stelle beruhigt. Doch es konnte gut möglich sein, dass Sir Baldwin aufgewacht und mit eigenen Augen überprüfen wollte, dass alles in Ordnung war.
Eine ganze Weile blieb er stehen und lauschte in die Nacht. Auβer dem gleichmäβigen Rauschen des Regens war kein Laut zu hören.
Cassian blickte an der Rückseite des Schlosses hoch. Alle Fenster waren geschlossen, die Läden davor geschlagen, nirgendwo drang ein Lichtschein zwischen den Ritzen durch. Sir Baldwin schlief auf der anderen Seite. Cassian wusste auch, dass er sich sehr gerne im ehemaligen Arbeitszimmerseines Vaters aufhielt, an dessen Schreibtisch saβ und seinen Hintern auf dessen Stuhl platt drückte. Zum Schlafzimmer hatte Baldwin Humbert das Schlafzimmer seiner Eltern gekürt. Er war es, der nun in dem groβen Bett aus Nussbaum schlief, das ringsherum von einem Aufbau umgeben war, an dem im Winter dicke, weiche Stoffe als Schutz vor der Kälte hingen.
Cassian schnaubte bei dem Gedanken daran, dass sein ärgster Feind in diesem Augenblick im Ehebett seiner Eltern lag und wahrscheinlich den Schlaf der Gerechten schlief.
Er bückte sich und tastete nach dem Dolch, der in seinem linken Stiefel steckte. Nein, er hatte nicht vor, ihn zu benutzen, zumindest jetzt noch nicht. Doch wenn es nötig sein sollte, dann würde er keine Minute zögern.
Langsam schlich er sich durch den Garten zum Hintereingang des Schlosses. Die Tür war meistens verschlossen. Er wusste aber, dass die Mägde sich hin und wieder in der Nacht zu ihren Liebsten ins Dorf davonstahlen. Deshalb lag ein Schlüssel unter einem Tontopf, in dem Anna eine Mischung aus Pferdedung und Erde aufbewahrte, um damit die Pflanzen zu düngen.
Vorsichtig drückte er die Klinke und wunderte sich nur wenig, dass die Tür seinem leichten Druck ohne Zögern nachgab.
Er schlüpfte hinein und sah sich um. Bei dem vertrauten Geruch, der ihm aus der nahen Waschküche entgegenschlug und ihn an Zeiten erinnerte, in denen er noch glücklich und unbeschwert war, zog sich sein Herz
Weitere Kostenlose Bücher