Entscheidung der Herzen (German Edition)
Fieberndem die Stirn.
Cassian sah zwei Männer in Mönchskutte und mit Masken vor dem Gesicht in den Elendssaal kommen. Sie traten zu einem Mann, der auf dem Boden lag und sich nicht mehr bewegte. Einer der Mönche fasste ihn unter den Achseln, während der andere ihn an den Füβen packte. Der Mann wartot. Die Mönche trugen ihn aus dem Saal, kamen gleich darauf zurück, gingen zu einer anderen Leiche und trugen auch sie davon.
Als sie zum dritten Mal an ihm vorübergingen, zog Cassian einem von ihnen an der Kutte und fragte mit brüchiger Stimme: »Wo bin ich hier?«
Der Mönch lächelte müde und hockte sich neben ihn auf den Boden, legte eine Hand auf dessen Stirn. »Ihr seid im Armenhospital von London. In Soho, wenn Ihr es genau wissen wollt.«
»Wie bin ich hierher gekommen?«
Der Mönch zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Jede Minute kommen neue Kranke zu uns. Manche sind von den Spitalpflegern auf der Straβe gefunden worden, andere haben sich aus letzter Kraft selbst hierher geschleppt.«
Cassian nickte, während sein Blick über die Reihen der Todkranken wanderte.
»Es ist ein Elend«, fuhr der Mönch fort. »Die Pestkranken sterben schneller als Eintagsfliegen. Die Totengräber schaffen ihre Arbeit schon lange nicht mehr.«
Cassian erschrak. »Bin ich etwa auch von der Pest befallen?«
Der Mönch betrachtete ihn aufmerksam, schob sein vollkommen verdrecktes Hemd zur Seite und besah sich die Brust, die Armbeugen, die Leisten.
»Nein, noch kann ich keine Anzeichen der Pest an Euch entdecken. Was auch immer Euch hierher geführt hat, die Pest war es wohl nicht.«
Er sah den jungen Mann einen kurzen Moment nachdenklich an, dann beugte er sich ein Stück herunter und raunte:»Ich rate Euch, von hier zu verschwinden, so bald Ihr dazu in der Lage seid. Ihr seid jung und stark, zu jung, um schon zu sterben. Geht, bevor Ihr Euch bei den anderen ansteckt.«
»Wie lange bin ich schon hier?«, fragte Cassian.
»Genau weiβ ich es nicht. Eine Woche, zehn Tage, vielleicht etwas länger, vielleicht etwas kürzer.«
»Hat jemand nach mir gefragt? Eine junge Frau vielleicht?«
Der Mönch schüttelte den Kopf. »Nein, niemand, der hier liegt, bekommt Besuch. Es hat auch keiner nach einem der Kranken hier gefragt.«
»Seid Ihr sicher? Meine Frau, sie muss doch da gewesen sein. Cathryn heiβt sie und ist wunderschön.«
»Viele sind aus der Stadt geflohen. Es kann sein, dass Euer Weib auch gegangen ist oder … «
Der Mönch beendete den Satz nicht, doch Cassian hatte ihn verstanden: »Oder sie ist an der Pest gestorben«, flüsterte er mit belegter Stimme.
Der Mönch nickte und klopfte Cassian leicht auf die Schulter. »Geht und sucht nach ihr. Aber seid vorsichtig. In der ganzen Stadt wimmelt es nur so von Pestkranken. Am besten wäre es, wenn Ihr aus der Stadt und aufs Land gehen würdet. Vielleicht findet Ihr eine mildtätige Seele, die Euch in einem Heuschober schlafen lässt.«
»Danke. Danke für alles«, sagte Cassian, doch der Mönch winkte ab.
»Unter dem Strohsack findet Ihr Eure persönlichen Sachen, falls Ihr welche bei Euch hattet und sie nicht gestohlen worden sind.«
Mit diesen Worten stand er auf und gesellte sich wieder zu seinem Kollegen, der noch immer damit beschäftigt war, die Lebenden von den Toten zu trennen.
Unter gröβter Anstrengung rappelte Cassian sich hoch. Er war mager geworden. Seine Hose rutschte ihm über die Hüften. Er nahm sich einen Kälberstrick, der in einer Ecke lag, und schlang ihn wie einen Gürtel um seinen Leib. Dann hob er den Strohsack hoch, sah darunter – und fand einen Brief, auf dessen Vorderseite sein Name stand.
Er steckte den Brief in seinen Hosenbund und verlieβ, ohne auch nur noch einen einzigen Blick auf die Leidenden zu werfen, diese ungastliche Stätte.
Vor der Tür atmete er tief ein und aus, doch der Geruch von Krankheit und Tod hatte sich in seinen Kleidern festgesetzt und selbst die Haare nicht verschont.
Cassian lief auf wackeligen Beinen zu einem in der Nähe stehenden Brunnen, schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser und trank, dann wartete er, bis die Wasserfläche wieder glatt und klar wie ein Spiegel vor ihm lag und betrachtete sich darin. Was er sah, erschreckte ihn: Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, das Haar hing ihm in verfilzten Strähnen im Gesicht und reichte bis über die Schulter. Seine Wangen waren hohl, die Lippen schienen schmaler geworden zu sein. Ein zottiger Bart wuchs in seinem Gesicht und
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