Entscheidung der Herzen (German Edition)
alles in allem machte er den Eindruck, der ärmste aller Bettler zu sein.
»So weit ist es nun mir dir also gekommen, Lord Cassian von Arden«, sagte er voller Bitterkeit.
Als seine Hände getrocknet waren, zog er den Brief aus dem Hosenbund, setzte sich auf den Brunnenrand und brach das Siegel, welches er auf den ersten Blick als das von Sir Baldwin Humbert erkannte.
»Was, um alles in der Welt, hat mir dieser Hundesohn mitzuteilen?«, murmelte Cassian vor sich hin und entfaltete den Bogen. Er erstarrte beinahe, als er Cathryns Handschriftdarauf erblickte, und er gefror vollkommen zu Eis, als ihre Worte in sein Bewusstsein drangen.
»Meine Liebe zu dir ist erloschen wie eine Kerze im Wind. Es war falsch von mir, mit dir nach London zu gehen … von mir sehr verehrten und aus ganzem Herzen geliebten Sir Baldwin Humbert. Mit ihm gehe ich zurück in die Heimat. An seiner Seite will ich als anständige und ehrbare Frau leben…
Die Groβmut Sir Baldwins kennt keine Grenzen … «
Er las den Brief mehrmals hintereinander, als könne er weder seinen Augen, noch seinem Verstand trauen. Doch die Worte blieben. Schwarz auf weiβ standen sie auf dem Papier.
Eine Weile verharrte Cassian regungslos und starrte auf die Buchstaben, als könne er in ihnen einen Sinn erkennen oder eine Antwort auf die Fragen finden, die wie lästige Fliegen hinter seiner Stirn herumschwirrten.
»Cathryn«, flüsterte er, und die Verzweiflung brach über ihn ein wie die dunkelste aller Nächte. »Cathryn, was ist passiert? Was ist los mit dir?«
Er wusste später nicht mehr zu sagen, wie er die letzten Stunden verbracht hatte. Ziellos irrte er durch die menschenleeren Gassen, betrachtete blicklos die weiβen Kreuze an jedem zweiten Haus. Doch endlich stand er vor der kleinen Herberge, in der vor ganz kurzer Zeit für ihn noch das Glück gewohnt hatte.
War er erleichtert, als er sah, dass dieses Haus bisher von der Pest verschont worden war?
Ja, ja, ja, aus ganzem Herzen ja! Was auch immer in Cathryn gefahren war, wichtig war, dass sie lebte. Und das fehlende Zeichen an der Tür machte ihm Hoffnung.
Er schlug kurz mit dem Messingklopfer an die Tür, dann drückte er die Klinke hinunter und trat ein. In der Dunkelheit des Flures war er für einen Augenblick wie blind, doch dann sah er die dicke Wirtin mit den schweren, tief hängenden Brüsten auf sich zu gewackelt kommen. Die Frau schien ihm um Jahre gealtert, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Dabei war das wohl nicht mehr als sechs Wochen her.
»Na, kommt Ihr, um die Miete zu bezahlen?«, fragte sie, aber ihre Stimme klang nicht unfreundlich.
»Wo ist meine Frau? Habt Ihr sie gesehen?«, fragte Cassian zurück, ohne auf die ausstehende Miete einzugehen.
»Hmm!«, machte die Alte und wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang. » Sie ist nicht mehr hier. In einer Kutsche von der feinsten Art ist sie weggefahren. Ein Mann war bei ihr. Ich habe gleich gesehen, dass die Frau nichts taugt. War sich wohl zu fein für ein Leben hier. Seid froh, dass Ihr sie los seid. Und mit der Miete müsst Ihr Euch nicht eilen. Die Zeiten werden bestimmt bald besser.«
Jetzt kratzte sie sich am Kinn und betrachtete Cassian aufmerksam von oben bis unten. Dann schien sie einen Entschluss gefasst zu haben.
»Hmm«, machte sie wieder. »Ihr seid abgemagert. Aber wartet nur, bis die Pest die Stadt verlassen hat. Dann werden Männer Eurer Statur und Eures Alters Mangelware sein. Gut möglich, dass Ihr Euer Glück macht, wenn Ihr es geschickt anstellt. Hmm, hmm. Kommt doch heute zum Abendbrot zu uns. Ihr seid eingeladen. Meine Töchter würden sich bestimmt freuen, Euch zu sehen. Sie haben immer gut von Euch gesprochen, sind harte Arbeit gewöhnt.«
Cassian erinnerte sich mit leisem Grauen an die beiden Töchter der Alten. Die eine, ein Weib von Mitte zwanzig,hatte nicht einen einzigen Zahn mehr im Mund, dafür die Figur eines Schlachtschiffes. Die andere, etwas jünger, war dürr wie ein Stecken und auf ihren verkniffenen Lippen war nie ein Lächeln zu sehen.
»Ich werde erst einmal nach oben gehen«, erwiderte Cassian vage. »Ich muss mich dringend waschen und brauche saubere Kleidung. Wir sehen uns bestimmt später noch.«
»Ich werde eine meiner Töchter mit einem Eimer heiβen Wasser zu Euch schicken.«
»Danke«, murmelte Cassian, dann schlurfte er die schmale Holzstiege hinauf in den ersten Stock.
Vor der Tür des Zimmers zögerte er einen Augenblick, doch dann trat er entschlossen
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