Entscheidung in Gretna Green
ihn tiefer in die Stirn und ritt in unvermindertem Tempo weiter.
„Ich hätte sie nicht alleine reisen lassen dürfen“, knurrte er halblaut.
Der tief am Himmel hängende Vollmond warf ein fahles gespenstisches Licht über die Heide und das graue Band der Straße. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er in die dunkle Ferne, in der Hoffnung auf ein Zeichen von Felicitys Kutsche.
War es möglich, dass sie die Landstraße vor ihm erreicht hatte? Oder hatte sie bereits einen größeren Vorsprung auf dieser einsamen, gefährlichen Strecke?
Er musste nicht lange darüber nachdenken, denn im nächsten Moment erreichte sein Pferd eine sanfte Anhöhe, von der die Straße weit zu überblicken war. Und dann erspähte er einen winzigen tanzenden Lichtfleck in der Ferne und hoffte inständig, der Schein komme von der Lampe an Felicitys Kutsche.
Der Seufzer der Erleichterung blieb ihm in der Kehle ste cken. Das Licht bewegte sich plötzlich nicht mehr.
Das konnte verschiedene Gründe haben, aber im Augenblick dachte er nur an ein Unglück. Er beugte sich weit im Sattel vor, barg die Wange am Hals des dahinfliegenden Pferdes und spornte es zu einem letzten verzweifelten Endspurt an. Sein dröhnender Herzschlag übertönte die stampfenden Hufschläge.
Bald war er nahe genug, um tatsächlich Felicitys Karosse zu erkennen. Und dann fuhr ihm das Entsetzen durch alle Glieder. Eine dunkle Männergestalt mit vorgehaltener Pistole und einem hellen Tuch vor dem Mund war im Begriff, den Wagen zu besteigen.
Hawthorn zügelte sein Pferd scharf neben der Kutsche, warf sich aus dem Sattel auf den Banditen und schlug ihm noch im Sturz mit der Faust auf den Hinterkopf. Die beiden fielen vornüber ins Innere der Karosse, während Felicitys gellender Schrei die Nachtstille zerriss.
Der vermummte Mann lag schlaff unter ihm wie eine Strohpuppe, offenbar bewusstlos. Nur um sicherzugehen, tastete Hawthorn den Boden ab, bis seine Hand sich um den Pistolengriff des Räubers schloss.
„Bleiben Sie mir vom Leib!“, kreischte Felicity. „Fort mit Ihnen! Hören Sie?!“
Er wollte ihr versichern, dass die Gefahr gebannt sei, aber nach dem halsbrecherischen Ritt und dem Angriff auf den Straßenräuber war er so außer Atem, dass er nur ein heiseres Krächzen herausbrachte. Er rappelte sich auf, um Felicity tröstend in die Arme zu nehmen.
Als er die Hände nach ihr ausstreckte, schrie sie wieder gellend, gleichzeitig stieß sie ihm den Absatz ihres Stiefels mit voller Wucht in die Lendengegend. Er krümmte sich stöhnend.
Rückwärts taumelnd, stolperte er über den bewusstlosen Räuber und ließ sich auf die Sitzbank Felicity gegenüber fallen. Bevor er zu Atem kam oder wusste, wie ihm geschah, fiel sie über ihn her und hieb mit den Fäusten auf ihn ein, kratzte, biss und schlug um sich wie eine Wildkatze. Hawthorn wich zurück und hob schützend die Arme vors Gesicht.
„Felicity!“, keuchte er.
Ihr Angriff ließ nicht nach, im Gegenteil: Sie schlug noch heftiger auf ihn ein und schrie dabei aus Leibeskräften.
„Felicity, ich bin es, Hawthorn.“ Er bekam ihre schmalen Handgelenke zu fassen und rüttelte sie, um sie zur Vernunft zu bringen. „Es ist vorbei. Sie sind in Sicherheit.“
Sie erstarrte. „Hawthorn? Sind Sie es wirklich?“
In ihm zerriss das eiserne Band, das ihm die Brust eingeengt hatte, und er konnte wieder frei atmen. „Ja, ich bin es. Kein anderer wäre wohl so blöde, Ihnen die halbe Nacht hinterherzureiten.“
„Thorn“, stieß sie mit erstickter Stimme hervor und warf sich schluchzend in seine Arme.
„Ruhig, es ist vorbei, ganz ruhig.“ Er zog sie auf seinen Schoß, strich ihr beschwichtigend übers Haar und kämpfte gegen sein wachsendes Verlangen an, das drohte, ihn um seine Selbstbeherrschung zu bringen.
Der halsbrecherische Galopp aus Sorge um ihre Sicherheit, das Entsetzen über die Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen, dazu noch Felicitys Angriff, die wie eine Furie über ihn hergefallen war, nachdem er den Übeltäter unschädlich gemacht hatte – und nun wiegte er Felicity in seinen Armen, die ihren Tränen freien Lauf ließ, hörte ihr wild klopfendes Herz und ihr verzweifeltes Schluchzen, spürte ihre Wärme.
In diesem Moment hätte Hawthorn alles darum gegeben, mit ihr im warmen Bett zu liegen, statt in der kalten Kutsche auf offener Landstraße zu sitzen, mit einem benommenen Straßenräuber zu seinen Füßen, der sich wieder zu bewegen begann.
„M… Mister Greenwood?“,
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