ENTSEELT
nichts. Phase zwei: Ich bin geboren und expandiere in der ersten Sekunde meiner Existenz gleichförmig zu einem Umfang von ungefähr 599 000 Kilometern. Phase drei: Nach der zweiten Sekunde meiner Existenz gleichförmiger Ausdehnung ist mein Umfang doppelt so groß. Frage: Wer bin ich?
»Du bist irre«, sagte Harry. »Ganz bestimmt! Noch vor einer Minute hätte ich geschworen, ich sei verrückt, aber jetzt weiß ich, dass ich vollkommen normal bin. Im Vergleich zu dir jedenfalls.«
Harry?
Harry lachte laut auf und erschreckte damit die Zigeuner, die mit ihm den letzten Abschnitt des Berges hochkletterten. Sie murmelten vor sich hin: »Er ist verrückt geworden. Der Ferenczy hat ihn in den Wahnsinn getrieben!«
Der Necroscope widmete sich wieder seinen Gedanken: August, ich kann nicht mal meine Zehen abzählen, ohne dass ich dabei auf neun komme, und Sie verlangen von mir, die Rätsel des Universums zu lösen?
Nah dran, Harry, sagte Möbius. Nah dran. Mach nur so weiter, ich bin sobald wie möglich zurück. Seine Stimme verklang, und er war verschwunden.
Mein Gott!, sagte Harry und schüttelte unwillig den Kopf. Mein Gott!
Aber Möbius’ Frage hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Er konnte sich zurzeit nicht damit beschäftigen, aber er wusste, dass sie da war, fest in seinem Verstand verankert.
Die Gruppe war jetzt oben an der Felswand angekommen. Irgendwo hier auf dem windzerzausten kargen Plateau standen die Ruinen des Schlosses Ferenczy. Und dort wartete Janos; aber direkt hier, am Ende des langen Aufstieges ... hier wartete etwas anderes.
Es waren insgesamt sieben, oder acht, wenn man den Grauen mitrechnete, der sich in die Schatten drückte: Harrys Eskorte zum Unterschlupf des untoten Vampirs.
Die beiden vorderen Zirras sahen sie zuerst, dann Harry und dann die drei Zigeuner, die hinter ihnen den Berg hinauf keuchten. Alle wichen erschrocken und verängstigt zurück, nur der Necroscope selbst nicht. Harry wusste, dass er es mit Toten zu tun hatte, für ihn war das nichts Ungewöhnliches.
Die sieben gewaltigen Thraker, die dort auf sie warteten, waren seit mehr als zweitausend Jahren tot und auf Janos’ Geheiß aus ihren Begräbnisurnen wiederauferstanden. Sie hatten zwar einen Hauch von Leben an sich, aber in ihnen steckte noch sehr viel Tod. Sie trugen Helme und Teile der Rüstung ihrer Zeit, aber wo immer ihr nacktes graues Fleisch sichtbar war, war es verformt und verworfen. Die Helme waren Furcht einflößende Gebilde, dazu geschaffen, den Gegner einzuschüchtern, gewölbte, glänzende Bronzeteile mit ovalen Augenschlitzen, die dunkel im Licht der Fackeln schimmerten, und ausladenden, heruntergezogenen Wangenschützern.
Alle sieben waren sehr groß, aber der Anführer ragte noch einmal zehn Zentimeter über die anderen hinaus. Er trat drohend vor, doch die Augen hinter den Löchern in seiner Maske waren vor Kummer gerötet.
Bodrogk sah auf Harry und die fünf Männer, die hinter ihm kauerten, hinunter. »Lasst ihn los«, sagte er. Seine Sprache war uralt, aber die Art, wie er mit seinem Schwert auf Harrys Fesseln deutete, war unmissverständlich.
Der Sprecher der Szgany trat vorsichtig neben Harry und lockerte die Schlingen um seinem Hals. Er sprach Bodrogk an: »Ihr seid ... ihr seid die Geschöpfe des Ferenczy?«
Bodrogk verstand ihn nicht. Er sah sich ratlos um und überlegte, was der Mann ihn wohl gefragt haben könnte. Harry erkannte seine Verwirrung und antwortete: »Er will wissen, ob Janos euch geschickt hat.« Er sprach die Worte laut aus und ließ sie durch die Sprache der Toten übersetzen. Jetzt konzentrierte sich Bodrogks Blick nur noch auf Harry.
Der gewaltige Thraker trat einen Schritt vor, und die Zigeuner wichen weiter zurück. Bodrogk griff nach den Fesseln um Harrys Hals und zerriss sie, als wären es Bindfäden. Er grunzte eine Begrüßung und sagte dann: »Du bist also der Necroscope, der von allen Toten auf der Welt geliebt wird.«
»Nicht von allen«, wehrte Harry ab, »denn unter den Toten gibt es Feiglinge, genauso wie unter den Lebenden. Und wenn ich sie nicht kennenlernen kann, weil sie Angst davor haben, sich mir zu offenbaren, dann kann ich auch keine Freundschaft mit ihnen schließen. Außerdem habe ich auch gar nicht das Bedürfnis, von willenlosen Sklaven geliebt zu werden, Bodrogk.«
Auch Bodrogks Männer waren vorgetreten und hatten die Zigeuner am Rand der Klippe eingekreist, die sich nicht zu rühren wagten. Jetzt nahm ihr gewaltiger Anführer seinen
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