ENTSEELT
halb sieben gekommen und hat sich mit der Keogh-Akte in seinem Büro eingeschlossen. Er schüttet sich literweise Kaffee rein und sieht andauernd auf die Uhr. Er hat jeden angeschnauzt, der nach acht Uhr reingekommen ist. Und er will dich sprechen. Wenn ich du wäre, würde ich mir vorher eine schusssichere Weste umschnallen.«
Clarke stöhnte. »Danke für die Warnung.« Dann ging er in den Waschraum und machte sich frisch.
Als er vor dem Spiegel seine Krawatte richtete, brach es plötzlich aus ihm heraus: »Was zum Teufel ...? Wieso rege ich mich eigentlich auf? Bin ich denn sein Fußabtreter? Und seine Majestät will mich sofort sehen? Leck mich am Arsch – das ist ja wie bei der Army!«
Er zog absichtlich die Krawatte weiter auf, zerwühlte sein Haar und sah wieder in den Spiegel.
Dann fühlte er sich besser. Was hatte er schon zu befürchten? Nichts, denn Clarke hatte ein PSI-Talent, das niemand genau definieren konnte: Es hielt ihn aus Ärger heraus und beschützte ihn, wie eine Mutter ihr Kind beschützt. Er lenkte Gefahren nicht tatsächlich ab: Wenn man eine Kugel auf ihn abfeuerte, dann wich die Kugel nicht von ihrer Bahn ab, aber sie würde ihn trotzdem verfehlen. Oder die Pulverkammer würde nicht zünden. Oder er stolperte gerade im rechten Moment. Es gibt Leute, die angeblich das Unheil anziehen. Er war das Gegenteil davon. Er konnte durch ein Minenfeld spazieren, ohne dass ihm ein Härchen gekrümmt würde. Trotzdem drehte er jedes Mal die Sicherung heraus, wenn er eine Glühbirne wechseln musste. Aber an diesem Morgen war er nicht in der Stimmung, irgendwelchem Ärger aus dem Weg zu gehen. Es ist mir alles scheißegal, dachte er und stürmte zum Allerheiligsten.
Als er an die Tür klopfte, antwortete eine griesgrämige Stimme: »Wer ist da?«
Arrogantes Arschloch , dachte er, antwortete aber: »Darcy Clarke!«
»Kommen Sie rein, Clarke!« Er war noch nicht richtig im Raum, da ging es schon los. »Wo zum Teufel sind Sie gewesen? Sie haben hier einen Job, oder?« Und bevor er antworten konnte: »Setzen Sie sich.«
Aber Clarke blieb stehen. Er musste sich das nicht bieten lassen. Bis hierher und nicht weiter. Er hatte genug von diesem neuen Chef, der jetzt seit sechs Monaten das E-Dezernat leitete. Es gab schließlich noch andere Jobs; er war nicht auf diesen anmaßenden Scheißkerl angewiesen. Was für ein Abstieg: Sir Keenan Gormley war ein Gentleman gewesen, Alec Kyle war sein Freund; er selbst hatte das Dezernat effektiv und zuvorkommend geleitet – jedenfalls so lange, wie die anderen dem Dezernat freundlich gesonnen waren. Aber dieser Kerl war einfach nur ein Trampel! Ein Bauer! Ein Primitivling! Zumindest was interne Angelegenheiten und die Personalführung anging. Und seine Talente? Was war der Typ denn? Ein Hellseher, Telepath, Abschirmer oder Lokalisierer? Nein, sein einziges Talent lag darin, dass sein Verstand undurchdringlich war, Telepathen kamen an ihn nicht heran. Sicherheitstechnisch machte ihn das zum idealen Mann für den Job. Aber es wäre auch ganz nett, wenn er sich dabei wie ein menschliches Wesen aufführen würde. Wenn man unter solchen Leuten wie Gormley und Kyle gearbeitet hatte, dann war die Arbeit für Norman Harold Wellesley wie ...
Wellesley saß an seinem Schreibtisch. Ohne aufzublicken holte er tief Luft und begann: »Ich sagte ...«
»Ich habe Sie schon verstanden«, unterbrach ihn Clarke. »Ebenfalls einen guten Morgen.«
Jetzt sah Wellesley auf, und Clarke konnte feststellen, dass er so ungenießbar wie immer war. Und er sah die Akte von Harry Keogh, die über den ganzen Tisch verteilt war. Zum ersten Mal fragte er sich, was hier vorging.
Wellesley bemerkte Clarkes Stimmung sofort und wusste, dass es nicht angeraten war, ihn an diesem Morgen noch weiter anzublaffen. Ihm war klar, dass sich gerade ein Machtkampf anbahnte, der sich schon abgezeichnet hatte, als er diesen Posten antrat. Aber das war etwas, was er jetzt auf keinen Fall gebrauchen konnte.
»Schon gut, Darcy« sagte er, und sein Tonfall verlor etwas von seiner Schärfe. »Der Tag fing also für uns beide schlecht an. Ich weiß, Sie sind der zweite Mann in dieser Abteilung, und ich verstehe, wenn Sie meinen, Sie hätten einen gewissen Respekt verdient. Schön, aber wenn die Dinge verkehrt laufen – auch wenn wir alle herumlaufen und nett und freundlich zueinander sind –, dann bin ich derjenige, an dem alles hängen bleibt. Egal, wie Sie darüber denken, ich trage die Verantwortung für diese
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