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ENTSEELT

ENTSEELT

Titel: ENTSEELT Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Lumley
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aber ruhig und kühl vorgebracht, sogar mit einer gewissen Berechnung. Es war ein Versuch, Zharov von seinem Ziel abzubringen, oder ihn doch wenigstens ein wenig umzuleiten, obwohl er genau wusste, dass die vorgebrachte ›Bitte‹ nicht von Zharov ausging, der nur der Botenjunge war.
    Der Russe hatte offenbar nichts anderes erwartet. »Im Gegenteil«, erwiderte er. Seine Stimme war genauso ruhig wie die seines Gegenübers, aber er setzte dessen Zornesröte ein kaltes Lächeln entgegen. »Es ist nicht nur absolut möglich, es ist sogar unabdingbar. Wenn, wie Sie berichtet haben, Harry Keogh kurz davor steht, neue und bislang ungeahnte Fähigkeiten auszubilden, dann muss er gestoppt werden. So einfach ist das. Er ist eine Heimsuchung für das sowjetische E-Dezernat gewesen, Norman. Eine Katastrophe, ein geistiger Hurrikan, ein ... Psiklon? Unser E-Dezernat existiert zwar noch. Es hat trotz Harry Keogh überlebt, wenn auch nur knapp.« Zharov zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sollten wir ihm sogar dankbar sein. Seine, na ja, Erfolge haben uns umso deutlicher gezeigt, wie wichtig die Parapsychologie auf dem Gebiet der Spionage ist, und dass man sie auf keinen Fall unterschätzen darf. Das Problem dabei ist nur, dass er als Waffe für Ihre Seite einen viel zu großen Vorsprung bedeutet. Und deshalb muss er verschwinden.«
    Falls Wellesley Zharovs Argumentation überhaupt zugehört hatte, zeigte er das nicht. »Sie können sich bestimmt erinnern«, begann er, »ich meine, man hat Ihnen wahrscheinlich gesagt, dass meine ursprüngliche Verpflichtung Ihnen gegenüber nur sehr gering war? Ja sicher, ich schulde Ihren Chefs einen Gefallen – sagen wir ruhig, ich stehe in ihrer Schuld –, aber so groß ist diese Schuld auch jetzt nicht. Und Ihre Tilgungsraten sind weit überhöht. Sie sind außerhalb meiner Möglichkeiten. Ich fürchte, das ist die Antwort, die Sie mit nach Moskau nehmen müssen, Nikolai.«
    Zharov seufzte, stellte seinen Drink ab und lehnte sich in dem Stuhl zurück. Er streckte seine langen Beine aus, verschränkte die Arme über der Brust und schürzte die Lippen; seine Augenlider schienen noch schwerer als sonst. Die Pupillen der dunklen Augen glitzerten aus schmalen Schlitzen, und lange Augenblicke musterte er Wellesley, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Beistelltischchens saß.
    Wellesleys rotes Haar wurde merklich dünner. Mit fünfundvierzig war er vielleicht sechs oder sieben Jahre älter als der Russe, und man sah ihm jeden Tag an. Er war insgesamt ein unattraktiver Mann und hatte nur einen positiven Zug aufzuweisen: seinen Mund. Er war fest, wohl geformt und beherbergte ein makelloses Gebiss. Doch seine Nase war knollenförmig und fleischig, seine wässrigen blauen Schweinsäuglein blickten starr in die Welt, und die durch seinen Bluthochdruck hervorgerufene Röte ließ die großen Sommersprossen auf seiner Stirn unvorteilhaft gelb hervortreten. Zharov konzentrierte sich einen Moment lang auf Wellesleys Sommersprossen, bevor er sich wieder aufrichtete.
    »Ach, diese Entspannungspolitik!« Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Glasnost! Was ist nur aus uns geworden, wenn wir jetzt mit Schuldnern feilschen müssen? In den guten Tagen hätten wir einfach die Schuldeneintreiber losgeschickt! Vielleicht auch die Männer in den schwarzen Mänteln? Aber heute ... jeder kann sich vor seinen Verpflichtungen drücken – Offenbarungseid, Insolvenzverfahren! Norman, ich befürchte sehr, dass Sie Bankrott erklären müssen. Ihre Tarnung wird ...«, er formte mit dem Mund einen Kreis und stieß eine Reihe perfekter Rauchringe hervor, »... auffliegen.«
    »Meine Tarnung?« Wellesleys Augen wurden schmaler und seine Gesichtsfarbe noch intensiver. »Ich habe keine Tarnung. Ich bin das, was ich scheine. Sehen Sie, ich habe einen Fehler gemacht, und mir ist klar, dass ich dafür bezahlen muss. Na gut, aber ich werde nicht für Sie töten! Das würde Ihnen gefallen, nicht wahr? Wenn ich eine kleine Schuld mit einem so erheblichen Entgegenkommen ausgleichen würde! Aber das werde ich nicht tun, Nikolai. Also tun Sie sich keinen Zwang an, Genosse, lassen Sie mich auffliegen! Zwingen Sie mich zum ›Konkurs‹, wenn Sie mir damit drohen wollen. Ich werde meinen Job verlieren und vielleicht auch für eine Weile meine Freiheit, aber nur für kurze Zeit. Doch wenn ich Ihr Spiel mitspiele, bin ich erledigt. Dann werde ich da immer tiefer hineingezogen. Und was kommt beim nächsten Mal? Noch mehr Verrat?

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