ENTSEELT
nahm Zharov einen fliederfarbenen Umschlag aus seiner Manteltasche und reichte ihn Wellesley. »Das sind einige Fotos, die Sie noch nicht gesehen haben, Norman. Nur eine Gedächtnisstütze, damit Sie sich mit Ihrer Entscheidung nicht zu lange Zeit lassen. Wissen Sie, wir stehen ein wenig unter Zeitdruck. Und versuchen Sie nicht, mit mir in Verbindung zu treten; ich werde mich bei Ihnen melden. Aber bis dahin ... Ich gebe Ihnen ein oder zwei Nächte. Vielleicht suche ich mir solange eine hübsche, saubere Hure.« Er kicherte sarkastisch. »Und für den Fall, dass Ihre Leute dann von ihr und mir einige Fotos machen ... na ja, die werde ich gern als Andenken behalten!«
Als er verschwunden war, ging Wellesley auf wackligen Beinen ins Haus zurück. Er goss sein Glas wieder voll, dann setze er sich und nahm die Fotografien aus ihrem Umschlag. Für jeden, der es nicht besser wusste, schienen das die Vergrößerungen von einfachen Schnappschüssen zu sein. Aber Wellesley wusste es besser, und auch jeder Mitarbeiter des englischen Nachrichtendienstes oder irgendeines anderen Nachrichtendienstes würde Bescheid wissen. Die Bilder zeigten Wellesley und einen sehr viel älteren Mann. Sie trugen Mäntel und russische Fellmützen und gingen in ein Gespräch vertieft nebeneinander her, während im Hintergrund die spiralförmigen Kuppeln des Roten Platzes hinter rot geschindelten Dächern aufragten. Andere Aufnahmen zeigten sie Wodka trinkend auf den Stufen einer Datscha. Insgesamt ein halbes Dutzend Fotos, von denen man den Eindruck gewinnen konnte, es handelte sich um Busenfreunde.
Wellesleys älterer »Freund« war in den Mittsechzigern. Er war an den Schläfen ergraut, aber sein ansonsten nachtschwarzer Schopf war straff nach hinten gekämmt und ließ eine zerfurchte Stirn frei. Er hatte kleine Augen unter buschigen schwarzen Brauen, um die sich, wie auch um seine Lippen, unzählige Lachfältchen sammelten. Ein harten Mund in einem zur Fröhlichkeit neigenden Gesicht. Auf seine Art war er ein sehr guter Kumpel gewesen – aber trotzdem brandgefährlich!
Wellesleys Lippen formten lautlos einen Namen: Borowitz.
Dann sprach er ihn laut aus. »Genosse General Gregor Borowitz – du verdammter Scheißkerl! Gott, was bin ich für ein Trottel gewesen!«
Eines der Bilder war besonders interessant, vor allem wegen des Hintergrundes: Wellesley und Borowitz auf dem Hof eines alten Landhauses oder Schlosses, ein heruntergekommenes ehemaliges Adelsgebäude, in dem sich die verschiedensten Architekturstile trafen. Zwei Zwiebeltürme reckten sich wie verrottete Phalli aus steilen Festungsmauern hoch. Die abblätternden Ornamente verfallener Brustwälle trugen noch zum allgemeinen Anschein der Baufälligkeit bei. Aber das Schloss war alles andere als baufällig gewesen.
Wellesley war nie in dem Gebäude gewesen, er hatte damals nicht einmal gewusst, um was es sich dabei handelte. Aber jetzt wusste er es sehr wohl. Es war das Schloss Bronnitsy, das Hauptquartier der russischen ESP-Spionage, ein berüchtigter Ort – bis Harry Keogh ihn in die Luft gejagt hatte. Es war nur schade, dass er das nicht schon ein paar Jahre früher getan hatte ...
Am nächsten Morgen erschien Darcy Clarke verspätet zur Arbeit. Zuerst ein schwerer Verkehrsunfall auf der nördlichen Umgehungsstraße, dann ein Ampelausfall im Stadtkern und schließlich die Schrottkarre von irgendeinem Scheißkerl, der auf Darcys Parkplatz stand. Er wollte dem Übeltäter gerade die Luft aus den Reifen lassen, als der Kerl auftauchte. Er unterbrach Clarkes Schimpftirade mit einem »Arschloch!« und fuhr davon.
Clarke schäumte immer noch vor Wut, als er mit dem diskret im hinteren Teil eines ganz unscheinbaren Mittelklasse-Hotels installierten Fahrstuhl ins obere Stockwerk hinauffuhr, in dem die gesamten Abhör-, Einbruchs-, Brand-, Katastrophen- und PSI-sicheren und vor allen anderen Eventualitäten geschützten Einrichtungen des E-Dezernats oder INTESP, wie es offiziell hieß, untergebracht waren. Als er sich einließ und aus dem Mantel schälte, wollte der diensthabende Beamte der letzten Nacht gerade nach Hause fahren.
Abel Angstrom begrüßte Darcy. »Morgen, Darcy. Du siehst so aus, als hättest du nicht gerade die beste Laune heute. Falls doch, wird sie dir gleich vergehen!«
Clarke zog eine Grimasse und hängte seinen Mantel auf. »Alles, was schiefgehen kann, ist heute schon schiefgegangen. Was soll denn da noch kommen?«
»Der Boss. Der ist ungenießbar. Er ist um
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