Entsetzliches Gleichmaß
sich um, und Ghemor schaute in ein Gesicht, das sie bislang nur in einem ganz anderen Kontext kannte. Der Ohrring war ein anderer und das kupferfarbene Haar etwas länger. Doch auch wenn sie wusste, dass ihr Gegenüber eine andere war, konnten diese Details das unangenehme Gefühl nicht vertreiben, der bajoranischen Intendantin gegenüberzustehen.
»Ich habe bloß gebetet«, erwiderte die Bajoranerin mit dem Hauch eines Lächelns. Nicht das raubtierhafte ihres Gegenstücks, sondern ein entwaffnendes Lächeln voller Selbstironie.
»Wofür?«
»Wie bitte?«
»Wenn Sie beten«, sagte Ghemor. »Worum bitten Sie Ihre Götter?«
Das angedeutete Lächeln kehrte zurück. »Ich bitte sie um nichts. Ich blicke in mich selbst und suche nach den Tugenden, die zu pflegen uns die Propheten lehrten. Weisheit … Stärke … Hoffnung.«
Das war nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. »Also meditieren Sie.«
Ihre Gastgeberin zuckte mit den Schultern und trat näher. »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Was zählt, ist die Erkundung des eigenen
Paghs
.«
»Waren Sie erfolgreich?«
»Es ist ein Prozess, kein Ziel.« Kira blieb vor Ghemor stehen und nickte knapp. »Captain Kira Nerys, Kommandantin von Deep Space 9.«
»Iliana Ghemor.«
Kira runzelte leicht die Stirn. Sie schien sich plötzlich bewusst zu werden, dass sie Ghemor anstarrte. »Vergeben Sie mir. Als ich dieses Gesicht das letzte Mal sah, schaute ich auf Cardassia Prime in einen Spiegel. Sie so vor mir zu sehen, ist ein wenig … irritierend.«
»Ich weiß genau, was Sie meinen.«
»Das glaube ich gern.«
Ghemor ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und überlegte, was er ihr über seine Bewohnerin verriet. Wie erwartet, war es nicht viel. Kira schien klug genug zu sein, nicht viel von sich preiszugeben, nicht einmal in ihren Privatgemächern. Dennoch fielen Ghemor einige Details ins Auge: der bescheidene Schrein war die einzige sichtbare religiöse Devotionalie. Sie bewies, dass Kira ihren Glauben ernst nahm, aber nicht damit hausieren gehen musste. Die schlichten und doch bequemen Möbel zeugten von einem Bedürfnis nach Entspannung, aber nicht von Müßiggang. Einzelne Erzeugnisse bajoranischen Kunsthandwerks verrieten ihren Stolz auf ihre Herkunft, und die frischen Blumen auf dem Esstisch unterstrichen ihre sanftere Seite, für die sie sich offenkundig nicht schämte.
Auf einem Regal neben der Tür zum Schlafzimmer bemerkte Ghemor etwas Glänzendes und hielt inne.
Es war das Armband ihrer Mutter.
Ghemor hatte gedacht, auf alles gefasst zu sein, was dieses Kontinuum ihr entgegenschleudern mochte: Freunde und Feinde in vertauschten Rollen; Tote, die wieder lebendig waren; subtile Ähnlichkeiten und eklatante Widersprüche … Nach all den Texten und Berichten über das alternative Universum hatte sie geglaubt, nicht mehr überrascht und von nichts, dem sie begegnen würde, aus der Bahn geworfen werden zu können. Doch hier, inmitten der Besitztümer dieser eigenartig sanftmütigen Version der Intendantin, lag Kaleens Armband.
Ghemor nahm es in die Hand. Es schien absurd, erst um Erlaubnis zu bitten. Das Armband war makellos, noch immer rein und unbeschädigt.
»Erkennen Sie es wieder?«, fragte Kira.
Ghemor nickte, ohne den Blick von dem Schmuckstück zu nehmen. »Meine Mutter besaß so eines. Wie kommt es, dass Sie …«
»Auf unserer Seite war Kaleen Ghemors verwitweter Gatte ein Dissident und kämpfte im Geheimen darum, Cardassia zu reformieren«, erklärte der Captain. »Vor einigen Jahren wurde ich vom Obsidianischen Orden entführt und zu seiner lange verschollenen Tochter umoperiert. Das war Teil eines Plans, der Tekeny Ghemors Machenschaften aufdecken sollte. Doch er und ich entkamen. Als Zeichen der Verbindung, die zwischen uns entstanden war, gab er mir das Armband. Er hatte gehofft, es seiner Tochter vererben zu können.«
Ghemor erwiderte nichts, doch sie kannte die Geschichte bereits. Bevor sie in dieses Universum gereist war, hatte sie vieles gelesen. Aber sie war nicht gewillt, ihr ganzes Wissen preiszugeben. Noch nicht.
»Lebt Ihr Tekeny noch?«, fragte sie, nach wie vor ohne aufzublicken.
»Nein«, antwortete Kira. »Man diagnostizierte bei ihm das Yarim-Fel-Syndrom, und er starb einige Jahre später – in dem Glauben, seine Tochter sei tot. Ich hebe dieses Armband auf, um seiner zu gedenken … Was ist so lustig?«
Ghemor lachte. Sie konnte nicht anders. Der Respekt, mit dem Kira von Tekeny sprach, war der Gipfel der
Weitere Kostenlose Bücher