Entsorgt: Thriller (German Edition)
morgens an nichts mehr erinnern. Manchmal bemerkt sie, wie Kevin beim Frühstück über seine Zeitung hinweg zu ihr herüberschaut. Aber er fragt nie, ob es ihr gutgeht.
Seit diesem unendlich qualvollen Sturz ist das Szenario nicht mehr dasselbe. Wenn sie das himmelhohe Gebäude erreicht, ist das Baby verschwunden. Das Dachfenster ist bereits zerbrochen.
Sie fliegt abwärts durch das zackige Scherbenmaul des Fensters, während eine zunehmende Panik sie erfasst. Sie ist für das Baby verantwortlich. Sie muss es finden. In ihrem Traum fühlt es sich völlig selbstverständlich an, diese Verantwortung zu empfinden. Im Korridor ist es schummrig, das einzige Licht hier drinnen fällt durch das Dachfenster herein. Es gibt keine Elektrizität. Wozu auch, es gibt ja auch keine Menschen. Sie weiß, dass es vom Dach bis zum Erdgeschoss keine Menschenseele in diesem Gebäude gibt und dass die Suche des Babys erfolglos bleiben wird. Aber genau, wie sie weiß, dass das Gebäude unbewohnt ist, so weiß sie auch, dass das Baby trotzdem niemals damit aufhören wird zu suchen.
Im Flur stößt sie auf eine frische Blutspur, und sie erinnert sich an die Verletzungen des Babys. Ein Glassplitter von der Größe einer Messerklinge durchbohrt sein Auge bis in sein Hirn. Eigentlich dürfte es gar nicht mehr am Leben sein. Während es über die Glasscherben gekrabbelt ist, um nacheinander jede einzelne Tür auszuprobieren, hat es sich anscheinend weitere Verletzungen zugefügt. Sie folgt der Blutspur, immer noch schwebend, immer unter der Kontrolle des Wesens. Der mäandernde rote Film auf dem Beton wird breiter und feuchter. Dort, wo die Glasscherben mit ihren scharfen Kanten in den Beton ritzen, ist die Blutspur von Kratzern durchzogen. Kann der winzige Körper eines Kindes tatsächlich solche Mengen Blut enthalten?
Sie folgt der blutigen Fährte um eine Ecke herum.
Irgendwie hat das Baby eine offene Tür gefunden. Die Blutspur führt hindurch. Sie folgt ihr. Sie kommt in ein Badezimmer. Das Baby hat ein kleines Päckchen Rasierklingen entdeckt. Es spielt damit, als wären es Spielkarten, zerfleischt sich die Finger bis auf die Knochen. Einige der klebrigen, schlüpfrigen Klingen stecken in seinen Handflächen. Das Baby hält einen Moment inne und schaut sich um. Kann es sie hören? Weiß es, dass sie da ist? Sie betet, es möge sie mit dem verbliebenen Auge erblicken, ihre Anwesenheit zumindest irgendwie bestätigen. Dann wüsste sie, dass das Baby nicht mehr länger allein ist. Doch das Baby sieht sie nicht. Es sucht nach etwas anderem, etwas zum Spielen. Es lächelt, und aus seinem zerfetzten Mund tropft kirschroter Speichel. Es krabbelt wieder aus dem gekachelten Raum hinaus und drückt sich die Rasierklingen mit jeder Bewegung tiefer ins Fleisch. Eine steckt in seinem Knie, hat die ledrige Verdickung durchschnitten. Das aus der frischen Wunde hervorquellende Blut protokolliert in schmierigen Schlieren seine Fortschritte auf dem Weg Richtung Küche.
Dort befindet sich ein Gegenstand, den es haben will. Sie erblickt das Objekt seiner Begierde zuerst, bedenklich nah an der Kante einer Arbeitsplatte stehend. Das Baby krabbelt direkt darauf zu. Es blickt nach oben und sieht den Messerblock, kann ihn aber nicht erreichen.
Bitte tu das nicht, fleht sie. Warum tust du dir das an? Aber etwas hindert weiterhin jedes ihrer Worte daran, ihre Lippen zu passieren.
Das Baby beginnt gegen die Türen des Küchenschranks unterhalb der Arbeitsplatte zu schlagen. Sein gebrochener Arm steht dabei in einem grotesken Winkel ab. Immer noch ragen die dünnen, scharfkantigen Knöchelchen aus einer Wunde, die wohl niemals völlig verheilen wird. Mit diesem zweiten »Ellbogen« seines gebrochenen Arms und der anderen, mit Glassplittern gespickten Hand trommelt es heftig gegen die Schranktüren. Dadurch rutscht der Messerblock immer näher an die Kante heran.
Nein, Baby, tu das nicht! Ihr stummer Schrei verhallt ungehört.
Das Unvermeidliche geschieht. Der Messerblock fällt und spuckt noch im Sturz seine sieben Messer aus. Er trifft den Kopf des Babys und schlägt dann schwer zu Boden. Die Messer sinken in seinen Körper ein, als bestünde dieser aus frischgebackenem Kuchen. Sie schneiden tief. Tief genug, um stecken zu bleiben. Das Baby verharrt bewegungslos. Dann dreht es sich um. Einige der längeren Klingen haben es geradewegs durchbohrt. Sie sieht die Messerspitzen aus seiner Brust herausragen, während es schreit. Sie kann das Schreien nicht
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