Entsorgt: Thriller (German Edition)
Gesetz. Aber das Gesetz war überholt. Diese Kreatur war etwas völlig Neues, die jüngste Vision der Natur. Ein Bruch mit der Evolution. Etwas, das die Welt womöglich vor ihrer Selbstzerstörung bewahren konnte, falls es überlebte. Er wusste, dass das immens wichtig war. Es war mehr als wichtig. Diese Kreatur war der Schlüssel zur Erneuerung der Arten. Eine neue, lebendige Logik, die den zerstörerischen Appetit der Menschheit auf den Kopf stellen würde.
Und es gab nur eine neue Logik, die in diesem Zusammenhang Sinn ergab: die Aufhebung der geltenden Naturgesetze. Das Überleben dieser Kreatur hing davon ab.
Als er endlich verstand, huschte ihm kurz ein Lächeln über das Gesicht, aber es verschwand, sobald ihm klar wurde, was er zu tun hatte. Wie gern hätte er sich selbst als die Hebamme dieser neuen Art gesehen, aber dafür war er zu spät auf der Bildfläche erschienen und hatte die Geburt des Wesens bloß noch aus der Distanz beobachten können. Aber wenn diese Kreatur überleben sollte, dann würde man sich seiner zumindest als das Kindermädchen ihrer Art erinnern. Vielleicht sogar als ihr Lehrer und Erzieher. Er stellte beinahe überrascht fest, dass er diese Verantwortung wirklich übernehmen wollte.
Das Gefühl der Schuld war demnach etwas, mit dem er zu leben lernen musste.
Das Geschehene zu erklären war unmöglich. Sie wussten, dass ihnen niemand glauben würde, aber sich eine Alternativgeschichte auszudenken, war kaum weniger schwierig gewesen, als es mit der Wahrheit zu versuchen. Während Ray fuhr und Jenny ihren verstümmelten Fuß gegen das mit Blut und Jauche verschmierte Armaturenbrett presste, hatten sie eine geradezu surreal anmutende Konversation.
»Du hast dir das Garagentor auf den Fuß geknallt.«
»Ich hab gar nicht die Kraft dafür.«
»Na gut. Ich hab dir das Garagentor auf den Fuß geknallt.«
Jenny, die nach dem Unfall bis dahin einen erstaunlichen Stoizismus an den Tag gelegt hatte, brach in Tränen aus. Ray trat ein wenig fester aufs Gaspedal und unternahm einen Versuch, den Lkw vor ihnen zu überholen. Auf der anderen Spur kam ihm Verkehr entgegen, und er scherte wieder ein. Jede Minute, die die Fahrt ins Krankenhaus sie kostete, setzte Jennys Wunde länger dem Schmutz und Dreck des Dings aus, das er getötet hatte.
»Uns ist ein Gullydeckel draufgefallen. Diese Dinger sind verdammt schwer.«
»Warum, zum Teufel, sollten wir einen Gullydeckel mit uns herumschleppen?«
»Äh … wir wollten … in den Kanalisationsschacht runtersteigen, um ein paar Schlüssel zu finden. Das würde auch erklären, ähm … na, du weißt schon, warum wir so stinken und all das.«
Als Jenny daraufhin entgeistert zu ihm herüberstarrte, spürte Ray zum ersten Mal eine echte Kluft zwischen ihnen. Vielleicht war es auch lediglich das erste Mal, dass er es sich eingestand. Wenn es darum ging, etwas gemeinsam zu schaffen, den Alltag zu bewältigen, klappte bei ihnen gar nichts. Wenn sie breit waren, lief alles prima. Dann verstanden sie sich blind, waren wie füreinander geschaffen. Er begriff nicht, warum sich das mit einem Mal so falsch anfühlte. Sie sah aus, als hätte sie die Nase voll von ihm. Gestrichen voll – von allem.
»Mich hat ein Hund gebissen, Ray. Er hat mir den Zeh abgebissen. Wir waren unten am Fluss, und da flog’ne Menge Müll rum. Das ist alles, was wir sagen werden.«
Ray hatte mit den Schultern gezuckt. Schön. Schließlich war es ja ihr Zeh. Also sollte es auch ihre Geschichte sein. So plötzlich, wie der Schmerz sich ihm auf die Seele gelegt hatte, war er auch wieder verschwunden. Er konnte es nicht erwarten, den Gestank nach Blut und Kloake aus dem Wagen zu kriegen.
Jetzt, zwei Stunden später, setzte er Jenny bei ihr zu Hause ab. Sie war zugedröhnt mit Schmerzmitteln, und er hatte ihr eine halbe Flasche Weinbrand gekauft – gegen den Schock. Dass sie ihn nicht hereinbat, machte ihn keineswegs unglücklich. Er hielt ihr die Tür auf, und sie humpelte auf ihren geliehenen Krankenhauskrücken ungelenk hinter ihm her. Sie roch immer noch grauenhaft, da ihre Jeans und Jacke sich mit der Gülle vollgesogen hatten. Die Ärzte hatten sie gewarnt, ihren Fuß keinesfalls mit Wasser in Kontakt zu bringen. Er hoffte trotzdem, dass sie ein Bad nehmen würde.
»Möchtest du, dass ich mit reinkomme und dir eine Tasse Tee mache oder so?«, fragte er aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus.
»Ich komm klar«, erwiderte sie. Sie ließ sich auf ihre abgewetzte Couch
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