Entsorgt: Thriller (German Edition)
Prozess erinnerte Mason an Einsiedlerkrebse, die die Muschelschalen, denen sie entwachsen waren, zugunsten geräumigerer Panzer ablegten. Aber es war so viel mehr als das. Das Ding aus dem Schuppen vergrößerte sich nicht einfach. Es verbesserte und modifizierte sich. So hatte es beispielsweise gelernt, was die besten Materialkombinationen für ein stabiles und robustes Skelett waren. Verhalten wie dieses war ganz sicher nicht frei von Bewusstsein. Es war keinesfalls das Verhalten somnambuler, toter Materie.
Teile des Fleisches der von ihm gerissenen Beute nutzte es als Muskeln und Sehnen, um die neuesten Teile zusammenzuhalten. Korrodierte Kupferrohre, Abschnitte von Garten- und Fahrradschläuchen waren zu seinen Venen geworden, in denen, dem Geruch nach zu urteilen, ein obszönes biochemisches Substrat aus wiederverwertetem Blut und dem schmierigen Sickerwasser der Mülldeponie floss. Je öfter er das Wesen betrachtete, desto komplexer schien es zu werden. Mason war fasziniert, hingerissen, bezaubert. Gleich Sonnenuntergängen, die einander niemals ähnelten, bezauberten ihn die Veränderungen, die Tag für Tag an der Kreatur zu beobachten waren. Es war ein Mysterium: Mason wusste, wie ihr Inneres aussah und woraus sie bestand, aber nicht, wie sich das alles zusammenfügte. Er wusste nicht, was das Ding aus dem Schuppen mit Leben erfüllte. Es war animierter, empfindungsfähiger, mechanischer Schrott. Es war Behelfsbiologie, verschmolzen mit wiederverwertetem menschlichem Abfall. Das Ding aus dem Schuppen trotzte dem Prinzip der Entropie. Mehr noch, es führte es ad absurdum. Es war so wunderschön und neu wie der schimmernde Pelz einer Wildfuchsrute. Es war ungezähmt wie ein Wolf, intelligent wie ein …
Mason gab sich Mühe, nicht weiter darüber nachzudenken.
Jeden Tag trieb die Kreatur neue, andersartige Knospen, abhängig von Menge und Wesen des Fleisches, mit dem er sie fütterte. Beständig ergänzte es sich aus sich selbst heraus. Was unabhängig von seinen zahlreichen Sprüngen und Metamorphosen offensichtlich blieb, war sein beharrliches Streben danach, sich von seiner animalischen Erscheinung wegzuentwickeln. Es versuchte – und jeder dieser Versuche scheiterte -, menschliche Gestalt anzunehmen. Natürlich gab es dabei Fehlentwicklungen, Anomalien: verkümmerte Glieder, die kaum einen Tag überlebten, überflüssige Zähne und Ohren, die abfielen oder so schnell verwesten, dass sie beinahe zu verdampfen schienen. Häufig trug die Kreatur morgens einen Schwanz, der am Ende des Tages wieder verschwunden war.
Sie war kein Tier, auch wenn sie das Wesen, die Organe, das Gewebe und die Sehnen eines Tieres besaß. Wonach sie strebte, war Menschlichkeit.
Seit jenem Tag, an dem ein wohlmeinender Zufall die beiden Bulldoggen in den Garten gelockt hatte, hatte die Kreatur einiges an Körpermasse zugelegt. Mason hatte sich angewöhnt, sie liebevoll das Ding aus dem Schuppen zu nennen, obwohl sie in seinem Gartenschuppen kaum noch Platz fand.
Und genau das bereitete Mason weitaus mehr Sorgen als alles andere. Wenn es nicht mehr das Ding aus dem Schuppen war, was würde es dann sein?
Da war das Geräusch. Es war kein Kratzen.
Es war ein Klopfen. Ein vorsichtiges, verstohlenes Klopfen am Gartentor. Dreimal. Masons Atemgeräusche hatten es beinahe übertönt. Abstände und Lautstärke bildeten einen Code, und einmal mehr konnte Mason diesen Code entschlüsseln und verstehen, was das sprachlose Ding aus dem Schuppen ihm sagen wollte. Es war ein Signal, einzig für ihn bestimmt. Ich bin zurück, lass mich rein. Das alles war ihr kleines Geheimnis. Komm her zu mir, leise, damit niemand etwas bemerkt. Da war noch etwas. Etwas, das er zuvor noch nicht gehört hatte. Normalerweise war das Kratzen zwar beharrlich, aber irgendwie müde, als hätte das Ding aus dem Schuppen sich bei seinem nächtlichen Streifzug verausgabt.
Erneut ertönte das dreimalige Klopfen. Ein wenig lauter. Ein wenig schneller.
Beeil dich.
Das Ding aus dem Schuppen war aufgeregt. Es wollte ihm irgendetwas zeigen.
In Pantoffeln und seinem abgetragenen Pyjama bahnte sich Mason seinen Weg zum Fuß des Gartens. Die Wedel und Blätter seiner Pflanzen benetzten ihn mit Tau, wenn er sie streifte. Er bekam eine Gänsehaut. Hinter dem sich etwas heller absetzenden Quadrat des Gartentores konnte er einen Umriss erkennen. Es sah aus, als würde dort etwas kauern. Einen kurzen Moment lang war er unsicher. Er verharrte auf dem gepflasterten Pfad –
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