ENTWEIHT
es sollte noch fünfzehn Jahre dauern, ehe die Sonne anfing, mir das Fleisch zu verbrennen ...
Ich solle stets auf der Hut sein und immer aufpassen, dass ich auch ja brav und gut sei, damit ich ein guter Mensch werde, rein in Gedanken und ›menschlich‹ im Herzen. Zumindest dachte ich, dass sie ›menschlich‹ sagte, vielleicht meinte sie aber auch bloß, ich solle aufpassen, dass ich ein Mensch werde.
Und immer wieder ermahnte sie mich, ich solle nicht zu weit vorausschauen und nicht an die Zukunft rühren. Ich erinnere mich noch daran, wie sie mir das sagte – dabei war ich bloß ein Kind, das nicht weiter als bis morgen, allenfalls übermorgen dachte –, so als könnte ich irgendwie auf die Idee kommen, Pläne gegen die Zukunft zu schmieden! Nicht in meinen wachen Stunden, nein. Aber in meinen Träumen … ah, das war etwas anderes!
Ich träumte von meinem eigenen Geschäft: Ich sah mich bereits als Chef einer Bau- und Abrissfirma hier in Sizilien. Aber ich war viel zu jung, um überhaupt zu begreifen, was ich da träumte! Diese Sache, die ich da habe – die Fähigkeit, in meinen Träumen in die Zukunft zu sehen – es gibt einen Namen dafür. Man nennt es Oneiromantie. Meine Mutter erwähnte es sogar einmal. ›Darauf beruht ihre Macht‹, sagte sie. ›Auf einem Ungeheuer, das in einer Grube in der Manse Madonie haust, auf einem Wesen , das in die Ferne zu sehen vermag, selbst in die Zukunft. Er, es, dieses Wesen ist oneiromantisch veranlagt, und die Francezcis sind von seinem Blut. Und du, Luigi ... du bist von ihrem Blut ...!‹ Wenn meine Mutter solche Sachen zu mir sagte, überlief sie stets ein Schauder ...
Ich träumte von uns, Garzia, von dir und mir und den Abenteuern, die wir in Amerika bestehen würden. Darum war es keine große Überraschung für mich, als meine ›Tante‹ starb und mein Onkel, dieser Schwachkopf, ins Heim kam und dein Vormund mich adoptierte und uns beide mit nach Amerika nahm, um sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Nein, schließlich hatte ich bereits gesehen, wie meine Zukunft aussah. Na ja, einen Teil davon jedenfalls. Aber was ich träumte, trat zwar unweigerlich ein, allerdings vermochte ich nie genau zu sagen, wie es geschehen würde.
So hatte ich zum Beispiel einen ständig wiederkehrenden Albtraum, aus dem ich jedes Mal schreiend erwachte. Ich träumte von Blut! Aber ich erzählte nie jemandem, was ich in diesen Träumen sah, weder meiner ›Tante‹ noch ihrem Sohn, diesem Schwachkopf, und schon gar nicht meiner Mutter, oh nein! Denn schon als kleines Kind war mir irgendwie bewusst, dass es mir nicht wohl ergehen würde, sollte sie mit Gewissheit erfahren, was in mir war und sich schon damals bemerkbar machte. Die arme Frau, ich bin sicher, sie hätte mich auf der Stelle umgebracht und auch noch geglaubt, sie tue mir einen Gefallen.
Nun, ich vermutete zwar, dass ich anders als die anderen sei, aber ich wäre in hundert Jahren nicht darauf gekommen, wie sehr ich mich von ihnen unterschied, eh?
Träume von Blut, ja. Man konnte darin ertrinken wie in einem über die Ufer getretenen Fluss. Von Kopf bis Fuß war ich blutbedeckt, war regelrecht darin gebadet – in rotem, dunklem, schlüpfrigem Blut! Offensichtlich war ich dabei, zu verbluten; in jenen Träumen fühlte ich mich in der Tat dem Tode nah! Deshalb erwachte ich jedes Mal laut schreiend mitten in der Nacht. Ich konnte ja nicht ahnen, Garzia, dass es gar nicht mein Blut war und auch nicht der Tod, sondern das Leben ...
In Amerika träumte ich davon, in meiner Heimat Schätze zu heben. Doch die Erde, in der ich grub, war voller Blut, so als würde mein Spaten – scharf und glänzend, wie er war – durch die Körper Verstorbener schneiden! Da stand ich nun also, in einem Abgrund oder vielmehr Steinbruch, unter drohend vor mir aufragenden Klippen, knöcheltief in Blut watend, und die schrillen Schreie all derer, die da begraben waren, hallten mir in den Ohren wider. Sie verfluchten mich dafür, dass ich die Ruhe ihrer Gräber störte, in erster Linie jedoch verfluchten sie meine Vorfahren, die sie dort ermordet hatten.
Und auch dies war prophetisch, denn der Traum handelte nicht allein von dem, was war, sondern auch davon, was noch kommen würde. Kurz, es sollte so eintreten. Zwar nicht genauso, wie ich es geträumt hatte; dennoch sollten die ungeheuren Schätze, welche die Francezcis beiseitegeschafft hatten, wieder ans Tageslicht gebracht werden – von mir, dem Namen nach Luigi Castellano, aber
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