ENTWEIHT
noch immer am Leben sind.
Der dort, sagte Korath, der blaue Faden, das bist du! Deine Vergangenheit. Sieh nur, wie er über die Schwelle reicht – bis in dich hinein! Aber was mich angeht – ich habe keinen.
Das liegt daran, dass du tot bist, erklärte Jake. Und als du einen hattest, war er rot, nicht blau, der blutrote Faden eines Vampirs. Da hinten, an meinem Lebensfaden entlang, sind weitere rote Fäden. Siehst du sie?
Ja, antwortete Korath, aber sie sind weit weg und fallen von Augenblick zu Augenblick weiter zurück. Die meisten von ihnen … haben angehalten. Aufgehört zu existieren. Für immer.
Ausgelöscht, sagte Jake. Malinaris Gefolgsleute, denen Ben Trask, das E-Dezernat und ich drüben in Australien ein Ende setzten. Wir konnten es nämlich nicht riskieren, die roten die blauen infizieren zu lassen.
Koraths Totenstimme klang nun sehr leise. Wir scheinen uns weiterzubewegen. Diese Tür in die Vergangenheit, und du und ich, wir werden weggeschoben.
Nein, erwiderte Jake, nicht weg-, sondern vorwärtsgeschoben. Von der Zeit selbst, und zwar ins Jetzt.
Meinst du nicht eher in die Zukunft?
Ins Jetzt, sagte Jake noch einmal. Die Zukunft ist ein anderer Ort, vielleicht werde ich sie dir ein anderes Mal zeigen. Es schien ein Widerspruch in sich, doch dies musste genügen.
Sie verließen die Tür in die Vergangenheit, und schon im nächsten Moment sagte Jake: »Wir sind da.« Wo auch immer dieses »da« sein mochte ...
Wie sich herausstellte, befanden sie sich auf einer steilen Straße, die sich einen Berghang hinaufwand, vor und über ihnen der Rand eines Hochplateaus, während sich hinter und unter ihnen schier endlos das Meer erstreckte.
»Die Madonie«, sagte Jake. Dessen war er sich felsenfest sicher, allerdings ohne zu wissen, woher. »Ein Gebirgszug in Nordsizilien. Und dort unten befindet sich Luigi Castellanos Steinbruch – der Steinbruch in der Schlucht, von dem Natascha mir erzählte – wo er angeblich Steine für seine ›Bauprojekte‹ abbaut, während er in Wirklichkeit nach verborgenen Schätzen gräbt, die die Nazis im Zweiten Weltkrieg zusammenstahlen. Natascha hat mir davon erzählt, ja – und es war einer der Orte, die ich aufsuchen wollte – aber ich bin mir vollkommen sicher, dass ich die Koordinaten nicht von ihr habe.«
Von wem denn sonst?, fragte Korath.
Jake schüttelte den Kopf. »Ich kannte sie einfach. Es ist, als … als hätte ich mich daran erinnert?«
Hast du sie von dem ursprünglichen Necroscope? Von Harry Keogh?
»Das passiert mir nicht zum ersten Mal«, sagte Jake. »Manchmal, wenn ich mich mit Lardis Lidesci unterhalte oder auch kurz danach, habe ich dasselbe Gefühl. Er ruft merkwürdige Pseudo-Erinnerungen in mir wach, dann ist mir jedes Mal so, als würde ich mich an die Orte erinnern, von denen er spricht, Orte, an denen ich unmöglich jemals gewesen sein kann, sie befinden sich nämlich in einer anderen Welt.«
Jakes Fernglas hing ihm an einem Riemen von der Schulter. Nun öffnete er das Etui, nahm das Fernglas heraus und blickte damit hinab in den Steinbruch unter den drohenden Klippen.
»Ich habe so ein Gefühl, als hätte ich hier schon einmal gestanden. Aber ich entsinne mich nicht an diesen Steinbruch da unten … in dem die Männer mit ihren Maschinen eigentlich weniger Steine brechen als vielmehr herabgestürzte Trümmer umwenden, die von … huh? «
Abrupt hielt er inne und schwenkte das Fernglas nach oben, den steilen Abhang der Schlucht empor bis zum Rand des Hochplateaus und legte den Kopf weit in den Nacken, um sein Augenmerk auf etwas zu richten, das, wie er wusste, da sein musste – aber nicht war. Lediglich eine frische, tiefe Abbruchkante war zu sehen, als wären tausende Tonnen Felsgestein von oben herabgestürzt. Er sah die gewaltige Narbe in der Wand des Plateaus –
– und schon im nächsten Augenblick verschwamm sie vor seinen Augen und wurde zu dem, was er von Anfang an erwartet hatte: zur Manse Madonie, wie sie einst ausgesehen hatte!
Ein gedrungenes, burgartiges Schloss oder Herrenhaus, das mit seinen weißen Mauern an einem gähnenden Abgrund thronte, wo einen Augenblick zuvor nur eine riesige Einbuchtung im nackten Fels zu sehen gewesen war! Eine uneinnehmbare Festung am Rand eines Steilhangs, der sich gut und gern zwölfhundert Meter über den Grund der Schlucht und die jäh ansteigende Geröllwand des trümmerübersäten Steinbruchs erhob.
Da stand sie vor Jakes geistigem Auge – völlig real, wenn auch nur einen
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