ENTWEIHT

spüren.
    Es ist wie der Tod, sagte der Vampir, und doch ist es lebendig. Zwar nicht warm wie du, aber auch nicht kalt. Du kannst es spüren ...
    »... und darum muss es mich, gemäß den Gesetzen der Physik, wohl ebenfalls spüren«, sagte Jake. Seine Stimme war nur ein Flüstern, denn im Möbiuskontinuum haben selbst Gedanken Gewicht, und ein in normaler Lautstärke gesprochenes Wort kann wie ein Donnerschlag wirken.
    Ich weiß nichts über Physik, sagte Korath.
    »Genau dies beunruhigt mich«, erwiderte Jake. »Ich nämlich auch nicht. Zumindest früher nicht. Deshalb bin ich mir nicht sicher, wessen Physikkenntnisse dies hier eigentlich sind … oder ob es sich überhaupt um Physik handelt. Metaphysik, vielleicht. Möbius-Physik.«
    Ich weiß bloß, was dein Geist mir zeigt. Und im Augenblick zeigst du mir nicht alles.
    »Aber es gibt etwas, was ich dir unbedingt zeigen möchte«, sagte Jake. »Wenn auch nur, weil ich es selbst gerne – wieder – sehen würde.«
    Äh, sollten wir mittlerweile nicht schon da sein?, meinte Korath besorgt.
    »Wo?«, flüsterte Jake.
    An dem Ort, zu dem wir unterwegs sind.
    »Aber bist du denn gar nicht interessiert? Ich möchte dir unterwegs etwas zeigen.«
    An einem Ort wie diesem? Was gibt es da schon zu sehen? Noch tiefere Finsternis?
    Jake schüttelte den Kopf. »Licht! Das Geburtslicht des Menschengeschlechts.« In seiner Stimme lag etwas – eine ungewohnte Demut, die Korath dazu brachte, es ebenfalls sehen zu wollen.
    Selbstverständlich, sagte der Vampir. Zeig mir dieses Licht.
    »Harry Keogh zeigte es mir im Traum. Aber natürlich war es mehr als bloß ein Traum. Es muss mehr gewesen sein, ich erinnere mich nämlich an die Koordinaten. Und dort befinden wir uns!«
    Eine Tür in die Vergangenheit öffnete sich und Jake blieb an der Schwelle stehen. Korath blickte durch seine Augen hinaus, schien mit Jakes Ohren zu hören und vernahm ein unglaubliches, langgezogenes Ahhhhhhh! wie von Myriaden engelsgleicher Stimmen, den Widerhall eines gewaltigen überirdischen Chores in einer kosmischen Kathedrale. Dabei gab es in Wirklichkeit gar nichts zu hören; denn die Zeit und das Möbiuskontinuum haben keine Geräusche, ansonsten bestünde es lediglich aus einer unerträglichen Kakophonie von allem, was jemals war und noch sein wird. Es spielte sich alles bloß im Geist ab – in Jakes Geist – ähnlich wie bisher lediglich in einer kleinen Handvoll weiterer Köpfe. Es war ein Phantom-Laut, der die Ehrfurcht einflößende Szenerie jenseits der Tür im Grunde begleiten sollte; alles andere war undenkbar.
    Es war, als werfe man einen Blick in den dreidimensionalen Raum, ins Herz eines fantastischen blauen Nebels. An seinem Ausgangspunkt war in der Tat alles nur verschwommen und wie durch einen Dunst zu erkennen.
    Der Anfang, sagte Jake, indem er zur reinen Gedankenübertragung zurückkehrte, so als wäre das gesprochene Wort an einem Ort wie diesem unnötig, ohne Bedeutung. Der Ursprung allen menschlichen Lebens.
    Aus dem Dunst wanden sich – wie mit Leben erfüllte Neonfasern – unzählige blaue Fäden und schienen sich immer mehr zu verdichten, während sie aus dem Knäuel im Zentrum auf die Beobachter zurasten. Die Lebensfäden der Menschheit, sagte Jake. Er wusste es einfach, ohne sich daran zu erinnern, ob man ihm dies erzählt hatte oder ob einfach ein natürlicher Instinkt aus ihm sprach. Jeder einzelne dieser Fäden ist beziehungsweise war das Leben eines Mannes, einer Frau, eines Kindes. Im Herzen jener Wolke dort, das war die Morgenröte der Menschheit – das ist Millionen von Jahren her!
    Zu guter Letzt fand Korath seine »Stimme« wieder. Manche von ihnen … erreichen nicht die Tür, sie geraten ins Stocken und erlöschen schließlich. Manche reißen einfach ab, während andere allmählich verblassen.
    Der Unterschied zwischen einem plötzlichen Ende, erklärte Jake, und einem eher sanften Tod. Zwischen einem Unfall oder einer tödlichen Krankheit und dem allmählichen Alt-Werden. Sieh sie dir an. Wenn du in die Tiefen des Weltraums blickst, blickst du in der Zeit zurück, Korath. Und dasselbe geschieht hier, nur dass wir einen Blick zurück in die Entwicklung der Menschen werfen.
    All die sich windenden, ineinander verschlungenen, nach außen schießenden blauen Lebensfäden. Allesamt fühlend, vorwärtsdrängend, suchend bewegten sie sich von der Vergangenheit in die Gegenwart. Das ist die Menschheit, sagte Jake einfach. Jeder, der je existiert hat, und jene, die