ENTWEIHT
herauf.
Wie stets beobachtete Jake fasziniert die sich ständig wandelnden Zahlen und Symbole, die sich vor seinem geistigen Auge abspulten, und hielt sie an exakt der Stelle an, an der sie, wie er wusste, ein Tor bilden würden. Er trat hindurch, aus seinem Zimmer hinaus ins Möbiuskontinuum …
… und tauchte nur einen Augenblick später im Gebirgszug der Madonie auf Sizilien wieder auf.
Mond und Sterne tauchten die Wand der Schlucht in ihren fahlen, matten Glanz. Wie zuvor stand Jake an der Straße und blickte auf den Steinbruch hinab. In orangenem Licht glomm dort unten das Kohlenfeuer einer Nachtwache, aber es war keinerlei Bewegung auszumachen. Weit entfernt schrie ein Käuzchen, im Strauchwerk am Straßenrand zirpten die Grillen, doch abgesehen davon war die Nacht ruhig und natürlich viel zu warm.
Jake wandte sich um und blickte von seinem Beobachtungsposten auf das Tyrrhenische Meer hinaus. Im Osten sah man die Lichter von Capo d’Orlando, im Westen diejenigen von Bagheria und Palermo. Der Mond warf seinen Schein aufs Meer hinaus, ein unglaublich bezaubernder Anblick, und Jake ertappte sich dabei, wie er an Liz Merrick dachte – allerdings an eine Liz in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit – in einer Welt, in der sie Zeit füreinander hatten, um zusammen zu sein ...
Nun, bald vielleicht. Aber vorerst noch nicht.
Als ihm klar wurde, dass sein Umriss sich vor dem östlichen Horizont abzeichnete, ging er zur Mündung der Haltebucht und ließ sich auf einem flachen Felsbrocken nieder. Mithilfe des Nachtsichtgeräts suchte er den Steinbruch ab und entdeckte die Wachleute (es waren zwei). Sie hatten es sich im Führerhaus eines Schaufelbaggers bequem gemacht und rauchten. Die Zigarettenglut war ein winziger, grellweißer Lichtpunkt in den im Wärmebild nur als graue Maske dargestellten Gesichtern. Die beiden stellten garantiert keine Bedrohung dar.
»Und jetzt muss ich Humph finden«, murmelte Jake leise vor sich hin. Seine Worte waren für die Toten gedacht und kamen einer Einladung gleich.
Du brauchst nicht weiter zu suchen, meldete sich Humph. Schön, dass du so bald wieder zurückkommst … denke ich. In seiner Stimme lag etwas, was vorher nicht da gewesen war: Er wirkte zurückhaltend. Jake wunderte sich zwar darüber, hielt es jedoch für das Beste, nicht weiter danach zu fragen.
»Das ist kein Höflichkeitsbesuch, Humph.« Er kam direkt zur Sache. »Ich bin hier, weil ich dich fragen möchte, was du über Harry Keogh weißt.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann sagte Humph: Weißt du, er war ein guter Freund. Er hat für mich getan, was ich nicht mehr tun konnte. Und das gilt für all die zahllosen Toten: Der Necroscope regelte für sie, was sie nicht mehr regeln konnten.
»Was regelte er denn?«
Er machte Unrecht wieder gut und kümmerte sich um offene Angelegenheiten. In meinem Fall jagte er dieses verdammte Schloss – Le Manse Madonie – in die Luft und brachte es zum Einsturz! Er hatte wohl eigene Gründe dafür, nehme ich an, aber es kam mir trotzdem sehr entgegen. Was ich sagen möchte, Jake, ist, ich habe nicht vor, aus der Schule zu plaudern. Wenn die Große Mehrheit nicht mit dir reden möchte, nun, dann haben sie wahrscheinlich ihre Gründe dafür. Obwohl ich hier draußen in Sizilien quasi am Arsch der Welt liege, bekomme ich doch hin und wieder mit, was so getratscht wird. Und ...
»Du hast völlig recht«, unterbrach ihn Jake. »Sie trauen mir nicht über den Weg. Sie geben mir keine Chance, mich zu beweisen. Dabei war es Harry persönlich, der mir diese Sache vermachte und mich in diese Schwierigkeiten brachte. Ich hatte nie vor, der neue Necroscope zu sein, das kannst du mir glauben, Humph. Und trotzdem habe ich jetzt das Ganze am Hals.«
So viel habe ich auch gehört, meinte Humph. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, in jüngster Zeit hatte ich mehr Besuch ...
»Seit ich hier war?«, warf Jake ein.
… als in den letzten siebzig Jahren. Ein Nicken, allerdings in Totensprache. Mehr, als ich je hatte, seit ich hier liege!
»Die Große Mehrheit«, sagte Jake ein wenig verstimmt. »Sie haben dich vor mir gewarnt.«
So ungefähr, sagte Humph. Aber, hey, es gibt auch welche, die auf deiner Seite stehen! Na ja, wie es scheint, wurde ziemlich viel geredet und am Ende stimmten sie wohl auch ab – so ähnlich wie in der Politik, musst du wissen. Yeah, selbst hier im Jenseits. Soviel ich mitbekommen habe, war es ein bisschen einseitig, und das Ergebnis
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