ENTWEIHT
einmal an der Lampe zu reiben. Mir soll das nur recht sein, ich darf bloß niemals vergessen, ihn bei Laune zu halten.«
Das Letzte, was er vor dem Einschlafen noch tat, war, einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. Sie stand auf kurz nach fünf Uhr nachmittags und das Licht, das durch seine Fenster fiel, fing gerade erst an zu verblassen ...
Wie stets waren Jakes Träume überschattet von einem sich immerzu windenden, stetig verändernden, einer liegenden Acht gleichenden Symbol des Möbiusbandes, begleitet von Zehntausenden Formeln, deren Ziffern und Symbole – so vertraut und doch zugleich so verwirrend – sowohl die Hüter des metaphysischen Möbiuskontinuums als auch das Tor dazu waren. Endlos rollten sich diese Gleichungen vor seinem geistigen Auge ab und instinktiv wusste er genau, an welcher Stelle er sie anhalten musste, um eine jener rätselhaften Türen entstehen zu lassen, die nur er zu sehen vermochte, eine Tür, durch die er sich aus diesem Universum hinaus an einen x-beliebigen Ort in einer anderen Seinsebene begeben konnte.
Zugegeben, er wusste, wie er die Gleichungen anhalten konnte, dennoch hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er sie aus dem Nichts heraufbeschwören, wie er ihren Fluss und ihre Veränderung in Gang setzen sollte, und er konnte weder ihre Abfolge noch ihre Zusammensetzung im Gedächtnis behalten. In seinen Träumen war es nicht schwer; sie waren einfach da, glitten durch seinen Geist, bereit, sich jederzeit seinem Gedankenfluss anzupassen, auf seinen Wunsch hin Gestalt anzunehmen. Doch wenn er wach war, war allein der Gedanke daran viel zu fantastisch, zu »übernatürlich«, zu unwirklich , um glaubhaft zu sein. Darin bestand, kurz gesagt, das ganze Problem; ebendies war Jake bislang noch nicht bewusst – dass daran zu glauben auch bedeutete, es zu beherrschen, dass er das Wissen darum in sich trug und dass es einfach da war.
Und hinter den strahlenden Achtersymbolen – hinter all den Formeln und Gleichungen war das Flüstern der Großen Mehrheit stets gegenwärtig, wie das Rascheln trockener Blätter im Äther der Totensprache.
Sie unterhielten sich über Jake und Harry Keogh, beinahe so, als wären die beiden ein und dieselbe Person. Sie erörterten, was aus Harry Keogh geworden war, aus ihm und zweien seiner Söhne, noch vor ihrem Tod – allerdings ohne sich genauer darüber auszulassen, was sie nun eigentlich geworden waren. Dann diskutierten sie die Vorzüge, die Vor- und Nachteile, überhaupt Umgang mit einem Wesen wie einem Necroscope zu pflegen, einem Menschen, der mit den Toten redet. Es war, als würde in den Friedhöfen dieser Welt Gericht gehalten, und Jake war derjenige, der auf der Anklagebank saß.
Jake erkannte Zek, die zu seiner Verteidigung die Stimme hob, und er glaubte , weitere Stimmen zu erkennen. Nein, er kannte sie in der Tat: die Stimme von Sir Keenan Gormley aus dessen winziger Grabstätte in einer parkähnlichen Friedhofsanlage in Kensington; »Sergeant« Graham Lane, einst Ex-Army-Nahkampf-Ausbilder von seinem Friedhof in Harden im County Durham, England. Doch woher wusste er dies alles, woher kannte er diese Leute? Selbst im Traum war es verwirrend, derartige Dinge einfach so zu wissen.
Und was nun die »Anklagevertreter« betraf: Im Großen und Ganzen schienen sie Jake verbitterte Leute – Menschen, die niemanden zurückgelassen hatten, der ihrer gedenken, und nie etwas getan hatten, dessen man sich erinnern würde; was wiederum hieß, dass sie keinerlei Grund hatten, sich Kontakt zu den Lebenden zu wünschen oder irgendetwas über sie zu erfahren. Für solche Leute war die Welt der Lebenden auf ewig verloren. Sie hatten sich damit abgefunden, sich in die ewige Finsternis des Todes zu vertiefen, ohne je einen Blick zurückzuwerfen. Ohne jegliche Hoffnung im Leben, verhielten sie sich auch im Tod nicht anders.
Die Fürsprache für Jake (oder vielmehr Harry) lautete:
Wir liebten den Necroscope (es klang wie das Rauschen der Gischt an einem fernen Gestade). Er hat uns nie im Stich gelassen, noch nicht einmal, als es mit ihm zu Ende ging; er hat uns nie ein Leid zugefügt, es sei denn, wir nahmen es freiwillig in Kauf, wenn wir ihm zu Hilfe eilten. Er war verletzlich und riskierte doch alles. Er war unser Licht in der Finsternis, er spendete uns Wärme und war alles, was wir hatten. Vor ihm hatten wir nichts – noch nicht einmal die Möglichkeit, miteinander zu reden, und nun haben wir uns.
Jakes Widersacher hingegen meinten:
Aber
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