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ENTWEIHT

ENTWEIHT

Titel: ENTWEIHT Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Lumley
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eine Kerze anzuzünden, dann sah man Schatten zuhauf, die mit dem Flackern der Flamme umhertanzten. Aber im Schein einer Taschenlampe, noch dazu wenn er sie abgelegt hatte – zum Beispiel auf einem Tisch, um Licht zum Lesen zu haben, oder über seinem Bett, wenn er schlafen ging – dann sollten die Schatten um Wally herum eigentlich scharf umrissen bleiben und hatten nun wirklich keinen Anlass, sich zu bewegen. Doch manchmal … manchmal hatte er den Eindruck, dass sie ebendies taten.
    Überdies waren diese Schatten äußerst merkwürdig. Es handelte sich keineswegs um die kleineren Schattenrisse vorbeihuschender Ratten, sondern von etwas wesentlich Größerem – von den Ausmaßen eines Menschen, und sie glitten rasch dahin. Nur dass Menschen in der Regel eben nicht dahingleiten ...
    Dies in etwa ging Wally an jenem Donnerstagmorgen durch den Kopf, als er mit seiner Einkaufstüte von der Fleet Street erst in eine kleine Seitenstraße und dann in einen von einer Mauer umgebenen, allmählich verwildernden Garten einbog, in dem er sich auf alle viere niederließ, um in einem Dickicht aus Brombeeren und üppig wucherndem Gestrüpp zu verschwinden. Südlich von ihm floss die Themse, im Osten lag die Innenstadt, die City of London. Der Fleet-River, einst ein offener Wasserlauf, der nun unterirdisch verlief, gurgelte lautlos direkt unter seinen Füßen dahin. Inmitten des Dickichts hob Wally einen unter einer dünnen Schmutzschicht und verdorrtem Laub liegenden, noch aus Viktorianischer Zeit stammenden Kanaldeckel an, der nur einer seiner zahllosen Einstiege in die Unterwelt war.
    Wally befestigte seine Tüte am Gürtel und ließ sich ins Dunkel hinab. Seine Füße fanden die Sprossenwand, und er stieg abwärts und hielt lediglich inne, um den antiken Kanaldeckel über seinem Kopf wieder zurechtzurücken. Anschließend setzte er, eng an die Wand des Schachtes gedrückt, um Platz für seinen missgestalteten Rücken zu schaffen, seinen Abstieg fort.
    Ungefähr sechs Meter ging es senkrecht hinab bis zum ersten Absatz, darauf folgte ein regelrechtes Labyrinth aus Rohrleitungen, Tunneln und Gängen, die sich wie Treidelpfade an trüben, schlammigen, scheinbar endlosen Kloaken mit niedrigen Decken und hallenden, dunstverhangenen Galerien voller rostender, längst aufgegebener Gleise entlangwanden … Auf wackeligen Sprossen, von denen der Rost abblätterte, sodass Wallys Handflächen ganz braun davon wurden, ging es tiefer hinab und weitere Galerien, Wasserläufe, Kanäle etcetera entlang. Alles in allem brauchte Wally neunzig Minuten, um an den Ort zu gelangen, den er sein Zuhause nannte. In der Luftlinie war es gar nicht einmal so weit, aber der Weg war verworren und wechselte immer wieder die Richtung.
    Wäre Wally Vorarbeiter gewesen, ein richtiger Boss, dann hätte er seinen Flushern Orte zeigen können, von denen sie noch nicht einmal zu träumen wagten! Aber um dorthin zu gelangen, musste man schon etwas riskieren, dazu brauchte man Mut und eine Fantasie, die die banale Vorstellungskraft gewöhnlicher Flusher weit überstieg. Denn sie nahmen dieses unterirdische Reich stets nur als ihren Arbeitsplatz wahr. Für Wally hingegen war es ein ganzes Universum – seine eigene Welt. Und darin gab es einige herrliche Plätze.
    Herrlich, ja! Kichernd legte Wally die letzten Meter des zu seiner »Wohnung« führenden Ganges zurück.
    Bei diesem Tunnel handelte es sich um eine unvollendete (eigentlich kaum begonnene) U-Bahn-Linie. Die kurzen, noch immer da liegenden Schmalspurschwellen kündeten davon, dass sie damals Loren benutzt hatten, um den Schutt von Hand wegzuschaffen. Die Gleise waren längst demontiert, wahrscheinlich hatten sie sie im Krieg eingeschmolzen. Im Zweiten Weltkrieg hatte man diesen Ort als Luftschutzbunker genutzt. Später waren die Eingangsschächte zugeschüttet worden, doch an den feuchten Backsteinwänden hingen immer noch einige reichlich mitgenommene Propaganda-Plakate aus den Jahren 1943 und '44, die für den Eintritt in die Army warben, während andere vor der Fünften Kolonne warnten.
    Für Wally waren es Zeugnisse einer Zeit, die er selbst nicht erlebt, an die sein Vater sich dafür aber umso lebhafter erinnert hatte – bis er schließlich der Weilschen Krankheit erlegen war. »Gott, was für einen Krach die Sirenen gemacht haben«, hatte er Wally immer erzählt. »Dann haben unsere Eltern uns geschnappt, mich und deine Tante« (nun war sie irgendwo in einem »Heim« untergebracht), »und ab ging

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