ENTWEIHT
– ein Ergebnis »natürlicher« Auslese. Schon Wallys Ururgroßvater war so etwas wie ein Flusher gewesen (beziehungsweise ein »Tosher«, wie man sie damals nannte, eine frühe Art von Kanalräubern, die ihren Lebensunterhalt dadurch bestritten, dass sie alles Mögliche aus der Kanalisation bargen) und sein Urgroßvater ebenfalls, nicht anders als sein Vater und sein Großvater vor ihm. Vielleicht hatte das jahrelange, über Generationen anhaltende Bücken, Schaufeln und Schürfen seine Gene so weit verändert, dass sie sich dieser Lebensweise anpassten. Denn bereits rein äußerlich wirkte Wally wie ein Höhlenmensch.
Er war dreiundvierzig und bekam allmählich eine Glatze; ein schütterer, über den buschigen, schwarzen Augenbrauen zu einem ausgefransten Pony geschnittener Haarkranz hing ihm über die großen Ohren bis in den pockenvernarbten Nacken hinab. Seine breiten Schultern waren äußerst muskulös, desgleichen die lang herabbaumelnden Arme und die kurzen, kräftigen Schenkel. Wegen seiner Stummelbeine und des s-förmig gebogenen Rückgrats war sein Wachstum eingeschränkt. Er war nur einen Meter vierzehn groß, ideal für die Arbeit in den Abwasserkanälen, die oftmals einen Durchmesser von nur neunzig Zentimetern bis etwa ein Meter vierzig hatten.
Nur dass er nicht mehr dort arbeitete …
Was nun die Einstellung seines Verfahrens betraf, hatte der Untersuchungsausschuss es als »Unfall« bezeichnen müssen, denn Wally war der einzige Zeuge gewesen. Und was geschehen war:
Ein Flusher, mit dem er zusammengearbeitet hatte, war in einen lotrechten Senkschacht gesaugt worden und in den Exkrementen erstickt. Doch da dies der zweite Unfall dieser Art innerhalb von neun Monaten war (ein weiterer Mann war beim Einsturz morscher Ziegelsteine zerquetscht worden) und beide ums Leben Gekommenen als Witzbolde bekannt gewesen waren, die den Buckligen hin und wieder aufgezogen hatten …
… hatten die übrigen Flusher es rundheraus abgelehnt, weiter mit ihm zusammenzuarbeiten. Denn ob nun aus Bosheit oder einfach, weil es sich so ergeben hatte, es gab keinen, der Wally noch nicht irgendwie hochgenommen hätte, und sie hatten nicht vor, ihn nun auf ihre Kosten seine »Späße« treiben zu lassen! Und die Flusher-Kolonnen waren nicht die einzigen, die diesen Verdacht geschöpft hatten; auch mehrere Ausschuss-Mitglieder hegten ernsthafte Zweifel. Doch da es keine eindeutigen Beweise gab, war Wally scheinbar trotz zweifachen Mordes davongekommen. Zumindest hatte ihn bislang noch niemand für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen, wenn man einmal von der Tatsache absah, dass er von seinen Flusher-Kollegen geschnitten wurde. Nun, scheiß drauf!
Wally ging es nicht besonders gut. Schon zweimal hatte er eine leichte Hepatitis gehabt, außerdem hatte er sich vermutlich auch die Weilsche Krankheit zugezogen, eine Leptospirose, verursacht durch Rattenurin. Wally hatte einiges über die Gefahren, die seine Lebensweise mit sich brachte, nachgeschlagen, und wusste, dass man sich über Schrammen und Kratzer anstecken konnte und dass die Krankheit letztendlich auch das Gehirn befiel. Jedenfalls waren ihm in letzter Zeit einige ziemlich merkwürdige Dinge durch den Kopf gegangen – und eigentlich nicht nur in letzter Zeit.
Es hatte vor ungefähr drei Jahren begonnen. Damals war Wally noch ein richtiger Flusher gewesen, und nicht anders als heute hatte er ein viel besseres Gehör gehabt als seine »Kumpels«, und auch sein Geruchssinn war weit besser entwickelt. Zu dieser Zeit hatte er angefangen, in der Unterwelt Londons alle möglichen ungewöhnlichen Sachen zu hören und zu riechen. Geräusche aus Regionen, wo eigentlich nichts und niemand sein dürfte, um sie hervorzubringen, und hin und wieder ein Hauch von etwas, das weder Ammoniak noch Grubengas oder der faulige Gestank nach Schwefelwasserstoff war. Komische Gerüche, ja … nach Tod und Verwesung, aber zugleich auch nach Leben. Nach welcher Art von Leben, vermochte er allerdings nicht zu sagen. Jedenfalls kamen die Geräusche stets von Stellen, an die er sowieso nicht gelangen konnte, aus den unbekannten, längst aufgegebenen oder vergessenen tieferen Geschossen einer noch älteren Unterwelt. Orte, zu denen Wallys Kollegen der Zutritt untersagt war und an die sie sich ohnehin nicht vorgewagt hätten.
Hin und wieder glaubte er, eine Bewegung wahrzunehmen und Schatten zu sehen, die nicht sein durften. Schatten waren zwar nichts Außergewöhnliches; man brauchte bloß
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