Entzweit : Vereint (ambi : polar) (German Edition)
mir vorzustellen, wie es wäre, mit David befreundet zu sein. Ich wollte ihn plötzlich näher kennen lernen und mehr über ihn erfahren. Aber das durfte nicht sein, denn wie ich eben so scharfzüngig festgestellt hatte, waren wir keine Freunde. Nicht mal ansatzweise, weil er im Grunde immer noch mein Feind war. Wenn es darauf ankam, würde er sich dem Wort beugen, das er seinem Volk gegeben hatte. Das wusste ich, das wusste er. Und doch stimmte es mich traurig.
Deswegen tat ich mir auch schwer, beim Nachhausekommen Marianne einigermaßen überzeugend die frisch verliebte Schwester vorzuspielen. Das war mir am Vortag schon schwer genug gefallen und ich war ihren Fragen so gut es ging ausgewichen und hatte sie ihrer blühenden Phantasie überlassen, doch heute spürte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber sie ließ mich zum Glück in Ruhe und sagte nichts, als ich mit missmutigem Gesicht in mein Zimmer verschwand.
Am nächsten Morgen war meine Unruhe wieder stark spürbar und obwohl das eigentlich der Moment war, die Kunst der Visualisierung anzuwenden, die ich inzwischen gelernt hatte, war ich zu zappelig, um mich ernsthaft darauf konzentrieren zu können und ich gab nach wenigen Minuten auf, zog meine Joggingsachen an und lief los in Richtung Montmartre, um mein Fahrrad abzuholen.
Das war ein ganz nettes Stück zu m Laufen und eigentlich viel zu weit, aber ich hatte so viel angestaute Energie in mir, dass ich mein Tempo nicht im Geringsten drosselte, um den ganzen Weg durchhalten zu können, sondern volle Power einfach lief, ohne groß nach rechts oder links zu sehen.
Ich wollte an nichts anderes denken , als an das Laufen und witzigerweise funktionierte dann nach einer Weile das mit dem Visualisieren plötzlich wie von selbst. Ich war völlig weg, wie in einem Tunnel, und im Nachhinein war ich überrascht, dass ich von keinem Auto angefahren worden war, denn ich nahm nicht besonders viel Rücksicht auf den Straßenverkehr um mich herum. Ich lief einfach und visualisierte während des Joggens, wie das Laufen mich reinigte, all meine aufgestaute Energie abfließen ließ und die Gier in meinem Magen beruhigte.
Atemlos , aber innerlich ruhig kam ich bei meinem Fahrrad an, ohne genau zu wissen, wie ich dorthin gefunden hatte. Ich fühlte mich erstaunlich gelassen und hatte tatsächlich das Gefühl, mich innerlich gereinigt zu haben. Verblüfft und erleichtert zugleich lachte ich laut auf. Na, wenn das mal nicht ein Erfolg war. Es hatte tatsächlich funktioniert. Dank Davids Methode der Visualisierung hatte ich die Unruhe zum ersten Mal voll in den Griff bekommen. Das war unglaublich. Unglaublich und wundervoll. Ich fühlte mich fast ganz wie die alte Josephine, bevor der ganze Irrsinn angefangen hatte. Nur fast, weil leider in meinem Hinterkopf unerbittlich immer wieder das Wort „Monster“ aufleuchtete.
Dennoch einigermaßen beruhigt schloss ich mein Fahrrad auf und schwang mich in den Sattel. Ich fuhr an dem Platz vorbei, wo Karim gewöhnlich saß, doch heute war er nicht da. Es war auch erstaunlich kalt, wie mir plötzlich auffiel. Der Winter hielt wohl langsam Einzug und ich saß total verschwitzt auf einem Rad mit nur wenigen Klamotten am Körper. Nicht unbedingt ideal für diese Witterung.
Prompt machte ich mir Sorgen um Karim. Was tat er an solchen Tagen, wenn er nicht malen konnte? Wenn es keine Touristen gab, die ihn dafür bezahlten? Wie überlebte er den Winter?
Plötzlich erinnerte ich mich wieder an das Portrait, das Karim von mir gemalt hatte. Wo war das denn abgeblieben? Verwirrt versuchte ich mich daran zu erinnern, wann ich es das letzte Mal gesehen hatte. Freitag kam mir weit weg vor, wie eine Ewigkeit, dabei waren es gerade mal drei Tage. Wann hatte ich das Bild zuletzt in der Hand gehabt?
Erschrocken fiel mir ein, dass David es zuletzt betrachtet hatte. Er hatte es bewundert, seine Ähnlichkeit mit mir, dem Original , festgestellt und dann hatte es auf seinem Couchtisch gelegen, doch ich konnte mich nicht erinnern, was später mit dem Bild geschehen war. Es war so viel passiert danach, dass ich es völlig vergessen hatte. Hatte David es an sich genommen?
Dann fuhr es mir siedendheiß durch den Körper. Hatte er es etwa absichtlich versteckt, um ein Bildnis von mir zur Verfügung zu haben, das er seinem Volk zeigen konnte, so dass alle mich eindeutig identifizieren konnten? Ich stoppte abrupt das Fahrrad, um darüber nachzudenken.
Das war ein abenteuerlicher Gedanke, aber da
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