Entzweit : Vereint (ambi : polar) (German Edition)
Kommilito nen wegzuziehen. Obwohl es mir schwer fiel, weil es sich wie ein Sog anfühlte, der mich an ihn fesselte.
Der Arm des Kerls fiel schlapp herunter, als wäre er völlig kraftlos, doch sein Blick haftete unverändert auf meinen Augen und er bewegte sich immer noch nicht. Er stand da, wie wenn mein Blick ihn bannen würde.
Noch während mir das klar wurde, wusste ich, dass ich den Augenkontakt mit ihm halten musste, um Schlimmeres zu vermeiden. Die Wut in meinem Bauch war schwächer geworden und es fühlte sich an, als würde mein Kopf das Kommando übernehmen.
Wie aus dem Nichts, wusste ich, was ich tun musste. Ich sendete meinem Gegenüber einen klaren, befehlenden Gedanken: „Es ist alles in Ordnung. Wir sind uns im Gang begegnet, du kennst mich nicht und gehst jetzt einfach weiter.“
Von dieser eigentümlichen, befehlenden Anweisung selbst überrascht, blinzelte ich irritiert und trat gleichzeitig einen Schritt zurück und im selben Moment löste sich der starre Blick meines Gegenübers. Er sah mich einen Moment lang völlig verwirrt an und wankte ein wenig, doch dann veränderte sich sein Gesicht zu einer gleichgültigen Miene und er ging einfach an mir vorbei weiter seines Weges. Ohne sich noch einmal umzublicken. Ohne irgendetwas zu sagen oder irgendeine Reaktion auf das eben Erlebte zu zeigen.
Ich stand völlig gelähmt da und starrte ihm ungläubig nach. Vor allem starrte ich auf das große feuerrote Mal an seinem Arm, das sich genau an der Stelle befand, an der ich ihn berührt hatte.
Fassungslos stand ich mitten im Gang, wusste nicht, wie mir geschah, und erwachte erst aus meiner Starre, als ich hörte, wie sich mir zwei unterhaltende Personen näherten.
P anisch sah ich mich nach einem Versteck um. Ich hatte Angst vor einer weiteren Begegnung dieser Art und schlüpfte kurzerhand in einen Vorlesungssaal, der zum Glück verwaist war. Ich lehnte mich an die kühle Wand und schloss die Augen. Was war da eben passiert?
Vorsichtig lauschte ich in mich hinein. Die Wut war weg. Überhaupt nicht mehr zu spüren. Da war nur noch wohlige Wärme in meinem Bauch. Und mein Kopf war seltsam still. Mal abgesehen von meinem aufgeregten Herzschlag herrschte in mir eine seltsame Ruhe und Mattigkeit. Was völlig widersprüchlich war, da man ja nicht gleichzeitig gelassen und aufgeregt sein konnte. Dennoch fühlte es sich so an. Als wäre ich plötzlich gespalten. Ein Teil von mir fühlte sich gesättigt und zufrieden an, der andere, der irgendwie in den Hintergrund gedrängt wirkte, drehte schier durch angesichts des eben Erlebten.
Der Gedanke, dass es in mir plötzlich verschiedene abgespaltene Teile gab, die zudem noch zu unkontrollierten Wutausbrüchen und seltsamen Gedankengängen neigten, machte die Lage nicht gerade besser. War ich verrückt?
Dieser Gedanke ließ mich zusammenzucken und mein ganzer Körper fing an zu zittern. Eine erneute Panikwelle fuhr in mir hoch, als ich begriff, dass das, was ich eben beschrieben hatte, wohl so ziemlich eindeutig die Definition von schizophrenem Verhalten widerspiegelte. Gespaltene Persönlichkeit war wohl der geläufige Begriff dafür.
Ich stöhnte laut auf und ließ mich an der Wand langsam nach unten gleiten, bis ich auf dem Boden saß. Was passiert mit mir? Im einen Moment war ich völlig ruhig, dann brauste ich plötzlich zur Furie auf. Jetzt hypnotisierte ich auch noch Menschen, hinterließ rote Flecken auf ihrer Haut durch meine Berührung und hörte eine Stimme in meinem Kopf, die andere Menschen anscheinend auch vernahmen, denn es hatte so gewirkt, als hätte mein Kommilitone auf den Gedanken, der durch meinen Kopf hallte, reagiert, als er einfach so mir nichts dir nichts von mir weglief, als wäre nichts passiert. So wie es der Gedanke prophezeit hatte. Was zum Himmel war das gewesen? Was passierte mit mir? Was ging da in mir vor?
War ich doch krank? Ernsthafter krank, als ich vermutete? Aber in meiner Familie waren keine Fälle von Geisteskrankheiten bekannt. Allerdings hatte ich mich nie sonderlich um meine Verwandtschaft gekümmert. Meine Familie war ziemlich klein. Großeltern gab es schon lange keine mehr und nur mein Vater hatte einen Bruder, der allerdings in Lille wohnte und den ich so gut wie nie gesehen hatte. An was waren denn meine Großeltern gestorben? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich konnte mich überhaupt nicht an sie erinnern. Erneute Panik stieg in mir hoch. Gab es vielleicht tatsächlich eine psychische Krankheit in meiner
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