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Envy-[Neid]

Envy-[Neid]

Titel: Envy-[Neid] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Brown
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Angebot, das ihnen ein mürrischer Koch wie ein Bauer hinstellte, der den Futtertrog für seine Herde füllt.
    »Heute Morgen habe ich einen Termin bei meinem Oberboss«, erklärte er. Aus Respekt vor ihr dachte er daran, eine Serviette zu benutzen, anstatt sich die Zuckerglasur von den Fingern zu lecken.
    Sie deutete auf sein Manuskript. »Ist das das Buch, das du für deine Abschlussprüfung geschrieben hast?«
    »Ja, Ma’am. Was ich bisher habe.«
    »Es ist sicher sehr gut.«
    »Danke, Mom. Hoffentlich.«
    Sie wünschte ihm alles Gute für seinen Termin und ging dann den nächsten Knaben begrüßen, der soeben hereinzockelte. Von allen Verbindungsmitgliedern im Haus sah er am besten aus und zog die Mädchen an wie das Licht die Motten. Liebend gern hätten ihn seine Kommilitonen für dieses unverdiente Glück gehasst, aber dazu war er ein viel zu netter Kerl. Statt sein Aussehen auszunutzen, spielte er es herunter und schien sich fast dafür zu genieren. Nach einem kurzen Blick zu Roark hinüber hob er zum Gruß sein Grübchenkinn. »Was gibt’s, Shakespeare?«
    »Was gibt’s, RB?«
    Jeder hatte einen Spitznamen, und »Was gibt’s?« war der allgemein akzeptierte Hausgruß, der nie beantwortet wurde. So sagte man das eben.
    Roark nannten alle bei seinem Spitznamen Shakespeare. Nur Todd nicht. Seine Verbindungsbrüder wussten, dass er mit Vorliebe schrieb, und William Shakespeare war der einzige Dichter, der vermutlich den meisten eingefallen wäre, wenn man ihnen eine Pistole an den Kopf gehalten hätte. Er hatte nie versucht, ihnen zu erklären, dass Shakespeare Theaterstücke in Blankversen schrieb, während er Prosaerzählungen verfasste. Manches war einfach zu komplex, besonders für Individuen wie jenen Verbindungsbruder, der auf die Aufforderung seines Lehrers für Englische Literatur, den Poeten anhand seines Porträts zu identifizieren, folgendermaßen reagiert hatte:
    »Verdammt und zugenäht, wieso erwarten Sie von mir, dass ich alle Präsidenten kenne?«
    Obwohl sich Roark durch diesen Spitznamen geschmeichelt fühlte, schien er ihm heute Morgen besonders vermessen. Ein prüfender Blick auf seine Armbanduhr bestätigte ihm, dass ihm noch eine Viertelstunde für den Weg zu Hadleys Büro blieb. Also noch reichlich Zeit. Trotzdem trank er seinen Kaffee aus, stopfte sein Manuskript wieder in den abgegriffenen Ordner und diesen in seinen Rucksack, und verließ den Speisesaal.
    Erst draußen im Freien wurde er sich des drastischen Wetterwechsels bewusst, der über Nacht eingesetzt hatte. Der kalte Wind drückte die Temperatur in Gefrierpunktnähe. Sie genügte nicht, den Teich in der Mitte des Campus zufrieren zu lassen, aber trotzdem wünschte er sich, er hätte sich vor dem Aufbruch einen wärmeren Mantel geschnappt.
    Das Institut für Sprache und Literatur war, wie die meisten auf dem Campus, ursprünglich im Südstaatenstil errichtet worden. Mit seinem breiten Portikus und den sechs weißen Säulen war es älter und stattlicher als die neueren Gebäude. Die alte rote Ziegelwand an der Nordseite hatte Wilder Wein überwuchert, dessen Grün sich binnen weniger Tage leuchtend orange gefärbt hatte.
    Kaum kam das Gebäude in Sichtweite, beschleunigte Roark sein Tempo, allerdings weniger aus Angst, zu spät zu kommen, sondern um sich warm zu laufen. Trotz seiner konservativen Erziehung, zu der auch der sonntägliche Kirchgang gehört hatte, hegte er Zweifel an Existenz, Natur und Charakter eines höheren Wesens. Er war sich nicht sicher, ob sich ein Wesen von jener Allwissenheit, die man Gott zuschrieb, auch nur einen Deut um die Alltagsprobleme eines Roark Slade scherte. Da aber heute nicht der Tag war, auch nur den geringsten Vorteil auszuschlagen, schickte er ein obskures kleines Gebet nach oben, während er durch den Portikus ging und das Gebäude betrat.
    Sofort bombardierte ihn der Geruch nach dem verbrannten Staub der alten Holzöfen, die man heute früh anscheinend voll aufgeheizt hatte, denn im Gebäude war es ungemütlich warm. Während er die Treppe zum ersten Stock hinauftrabte, schüttelte er Rucksack und Jacke ab.
    Er wurde von mehreren Studenten begrüßt, die sein Hauptfach teilten. Einer, ein spindeldürrer Hippie mit rosa John-Lennon-Brille und strähnigen Haaren, kam mit großen Schritten heran. »He, Slade.«
    Nur Mädchen nannten ihn Roark. Er war sich nicht sicher, ob es auf dem ganzen Campus überhaupt ein männliches Wesen gab, das seinen Vornamen kannte. Mit Ausnahme von

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